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Ruhm

Der Ausweg

Zusammenfassung

Der bereits aus der ersten Erzählung bekannte Schauspieler Ralf Tanner leidet unter einer merkwürdigen Entfremdung, die daher zu kommen scheint, dass er keine Anrufe mehr bekommt – warum, wissen die Leser aus der ersten Geschichte. Seine Nummer wurde aus Versehen einer anderen Person zugeteilt, dem Computer-Techniker Ebling. Weil dieser aber groben Unfug mit der falschen Verbindung treibt und sich etwa auf Verabredungen einlässt, die er nicht hält, was wiederum auf Tanner zurückfällt, empfindet sich Tanner als eine Person, die ihrem Schicksal ausgeliefert ist.

Einige Erleichterung verschafft es ihm so zu tun, als wäre er nur ein Ralf-Tanner-Darsteller, ein Impersonator. Ein Fan spricht ihn an und will ein Autogramm, woraufhin Tanner vorgibt, ein solcher Imitator zu sein. Diese Behauptung ist zwar zunächst erfolgreich, dennoch nimmt sein Gefühl der Entfremdung zu. So hat er etwa den Verdacht, das viele Fotografiertwerden nutze sein Gesicht ab. Um auf der Leinwand wie Ralf Tanner auszusehen, brauche es extrem viel Aufwand, Schminke, Maskenarbeit.

Eines Tages sieht Ralf Tanner, dass es in einer Disco namens »Looppool« einen Imitatorenabend gibt. Er nimmt als Ralf-Tanner-Imitator teil, bekommt allerdings gemischte Kritiken. Dafür gelingt es ihm, eine Frau, Nora, von sich zu überzeugen. Die beiden fahren zu Nora nach Hause und schlafen miteinander. Tanner nennt sich nun Matthias Wagner und mietet eine Zweitunterkunft, da sein Hauptwohnsitz mit Dienstboten ihn verraten würde.

Tanner beginnt damit, regelmäßig dem Imitatoren-Beruf nachzugehen, dabei ist er allerdings nur wenig erfolgreich, sodass er immer weniger Geld damit verdient. Trotzdem fühlt sich Tanner eigenartig wohl, fast frei. Allerdings zweifelt er dieses Gefühl auch wieder an und kehrt zwischenzeitlich zurück in seine Villa. Er erfährt, dass sich niemand nach ihm erkundigt und dass sein bester Freund sich umgebracht habe. Aus der ersten Erzählung von »Ruhm« wissen die Leser, dass Ebling daran Schuld trägt. Um sich zu erholen, flieht er wieder in seine Parallel-Existenz als Matthias Wagner. Dabei sieht er einen Trailer im Fernsehen, der ihn in einem Film zeigt, den er niemals gedreht hat.

Langsam häufen sich die Anzeichen dafür, dass jemand seine Existenz eingenommen hat. So gibt es Fotos von ihm, die ihn in China mit Parteifunktionären zeigen, obwohl er niemals in dem Land gewesen ist. Als Tanner später versucht, in seine Villa zu kommen, wird er abgewiesen. Die Diskussion mit seinem langjährigen Angestellten Ludwig verläuft ergebnislos. Dabei ist Ludwig durchaus mitleidig und kooperativ, dabei aber strikt der Überzeugung, der echte Tanner befinde sich bereits in der Villa.

Schließlich gibt Ralf auf und ergibt sich in sein Schicksal – das er Freiheit nennt. Fortan ist er Mathias Wagner und wird vom Erzähler auch so genannt.

Analyse

Der Chronologie gemäß schließt diese Erzählung an die erste an beziehungsweise läuft teilweise parallel zu ihr ab (vgl. Zimmermann 2016). Auch diese Erzählung befasst sich mit dem Thema der Identität. Gleichzeitig bildet sie das Gegenstück zur ersten Erzählung »Stimmen«. Durch den zu Anfang lediglich als Versehen zu bezeichnenden Identitätsdiebstahl durch Ebling, verändert sich etwas im Leben des Protagonisten Tanner. Dass ihm etwa eine ebenfalls berühmte Frau im Forum eines Hotels »die schlimmste Szene seines Lebens [macht]« (79) und dass sich sicher geglaubte Jobs »zerschlagen« (79), bewirkt ein tiefes Gefühl der Entfremdung.

Dazu muss man allerdings wissen, dass Tanner nicht nur ein bekannter Schauspieler ist, sondern ein extrem berühmter dazu. Er hat einen persönlichen Diener – selbstverständlich auch einen Personal Trainer, der für sein Sixpack trotz seines Alters verantwortlich zeichnet – und ein großes Anwesen. Seine Filme sind internationale Erfolge, nicht lediglich auf dem deutschen Markt bekannt. Ralf Tanner ist ein echter Superstar. Glücklich ist er jedoch nicht.

Auslöser seiner Krise, die die Züge einer Depression trägt, ist aber die Szene mit Carla Moretti. Sie, die von Ebling versetzt worden ist, schlägt Tanner ins Gesicht, wobei diese Tat von Zeugen mit dem Handy gefilmt wird. »Schon in dem Moment, in dem Carla mit aller Kraft zugeschlagen hatte, wußte er, dass diese Sekunden ins Internet kommen und seine besten Filme überstrahlen würden« (79 f.). Daraufhin zieht sich Tanner zurück, malt in Selbsttherapie Bilder und entwickelt eine psychosomatische Allergie. Erschwerend kommt hinzu, dass er sich in genau den Foren bewegt, die Menschen wie der Protagonist der Erzählung »mollwitt« (Mollwitz) für ihren Promi-Klatsch nutzen.

Erleichterung verschafft ihm dabei der Imitatoren-Wettbewerb. So zu tun, als sei er jemand, der so tut, als sei er Ralf Tanner, also er, impliziert, dass er ein anderer wäre, sodass er gewissermaßen Urlaub von sich selbst nehmen kann. Woran er leidet, ist ja nicht sein Charakter oder das, was er für seine Persönlichkeit hält, sondern vielmehr das Bild, das er in der Öffentlichkeit vermittelt.

Dabei referiert der Plot auf eine bekannte Anekdote, die Charlie Chaplin zum Gegenstand hat. Auch dieser habe in den 1920er Jahren an einem Imitatoren-Wettbewerb teilgenommen und dabei verloren. Ob dies so zustimmt, mag dahingestellt sein. Bei Ralf Tanner jedenfalls ist die Möglichkeit, sich als ein anderer auszugeben, die Möglichkeit frei zu sein.

Aus diesem anfänglichen Spiel wird zwar bald ernst, jemand nimmt nicht nur am Telefon seinen Platz sein; doch auch dies begreift Tanner letzten Endes als eine Befreiung. Damit erinnert die Erzählung an Max Frischs Roman »Stiller«, in der ein Mensch ebenfalls seine Identität aufgibt, um sich den mit dieser einhergehenden Verpflichtungen zu entziehen. Ob das im Falle Ralf Tanners von Dauer ist, erfahren die Leser allerdings nicht.

Veröffentlicht am 18. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. September 2023.