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Ruhm

Rosalie geht sterben

Zusammenfassung

Die etwa siebzigjährige Rosalie bekommt von ihrem Arzt die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs gestellt. Um den starken Schmerzen zu entgehen, die nach Bekunden des Arztes kurz vor dem natürlichen Tod auf sie zukämen, entscheidet sie sich dafür, in einen Sterbehilfeverein einzutreten. Sie tut dies, weil sie aus Erfahrung weiß, dass Selbstmordversuche ein hohes Risiko zu scheitern haben.

Rosalie möchte niemandem zur Last fallen und erzählt deswegen auch niemandem von ihrem Plan, in die Schweiz zu fahren, um sich dort dem assistierten Suizid hinzugeben. Nach einem Telefonat mit dem Sterbehilfeverein schläft sie äußerst unruhig und hadert mit ihrem Schicksal. In dieser Situation wendet sie sich an ihren/den fiktiven Erzähler Leo Richter und bittet darum, sie nicht zu töten, Leo Richter jedoch weist dieses Anliegen zurück und behauptet, es würde nicht in seiner Macht liegen. Rosalie bittet noch, gibt aber schließlich auf.

An ihrem Plan, niemandem etwas zu erzählen, hat sich zwar nichts geändert, dennoch kann sie gegenüber ihrer Nichte Lara Gaspard, die wie Rosalie eine bereits als solche eingeführte metafiktive Figur ist, ihr Vorhaben nicht verschleiern. Das Telefonat ist für beide Seiten belastend, ändert aber nichts an Rosalies Vorsatz. Schließlich fliegt sie in die Schweiz.

Wobei der Weg allerdings voller Hindernisse zu sein scheint: So kann das Flugzeug wegen Nebels nicht in Zürich landen. Der Zug, den sie stattdessen nimmt, muss wegen eines vermeintlichen Selbstmordes auf der Strecke stehen bleiben. Diese Hindernisse werden von Leo Richter, dem Erzähler, konstruiert. Dann aber tritt eine Figur auf, die sich der Macht Richters entzieht. Ein Chauffeur, der Rosalie anbietet, sie dorthin zu fahren, wohin es sie verlangt. Der Mann hat eine eigentümliche Wirkung, erscheint dubios und tritt anscheinend an, Rosalie endlich an ihr Ziel zu bringen. Tatsächlich aber setzt er sie an der falschen Adresse ab und verschwindet wieder. Rosalie muss also doch noch ein Taxi rufen, wird von diesem zum Sterbehilfeverein gebracht und zahlt das Fahrtgeld nicht. Sie sagt dem Fahrer, er solle unten warten.

Als Rosalie das Haus betritt, schaltet sich der Erzähler Leo Richter aber doch wieder ein. Als deus ex machina macht er Rosalie unvermittelt wieder gesund und dann wieder jung. Der Taxifahrer erhält sein Geld nicht. Eine alte Frau habe in dem Haus niemand gesehen.

Analyse

Die Geschichte »Rosalie geht sterben« ist, wie man aus der vorigen Erzählung »In Gefahr« weiß, von Leo Richter verfasst worden. Es handelt sich bei Rosalie also um eine nicht nur fiktive Figur, sondern um eine fiktive Figur innerhalb der Fiktion. Leo Richter ist grundsätzlich ein heterodiegetischer Erzähler. Es sei denn, man nimmt den ganzen »Roman« als Maßstab, dann wäre Leo Richter ein intradiegetischer Erzähler, dessen Erzählung auf der metadiegetischen Ebene liegt. Genau diese Unschärfe ist jedoch Teil des Spiels. Die Erzählung, die auf einer gänzlich anderen Ebene liegt als die beiden Erzählungen zuvor, arbeitet sich weiter an der Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion ab. Wenn selbst die verschiedenen Fiktionsebenen nicht sauber getrennt werden können – wie sieht es dann mit der sogenannten Realität aus? Ist diese nicht auch zweifelhaft?

Allerdings liegt es im Ermessen des Interpreten, ob dieser Frage wirklich weiter nachgegangen wird. Es ließe sich nämlich durchaus auch postulieren, dass der Text noch längst nicht an die Ebene der Realität heranreicht. So etwa geht Gerstenbräun vor: »Die Erzählsituation innerhalb der Geschichte ist heterodiegetisch, bis der Erzähler eine Bemerkung macht, die der Figur Rosalie die Möglichkeit eröffnet sich metaleptisch an ihn zu wenden« (Gerstenbräun 2012: 75). Die entsprechende Stelle in »Ruhm« lautet: »Und trotzdem kann sie sich nicht ganz in ihr Schicksal ergeben. Deshalb, zur frühen Morgenstunde, wendet sie sich an mich und bittet um Gnade. / Rosalie, das liegt nicht in meiner Macht. Das kann ich nicht. / Natürlich kannst du! Das ist deine Geschichte.« (54-55). Gerstenbräun: »Interessanterweise wird diese Metalepse, obwohl sich Rosalie an Leo Richter wendet, durch die Narration vollzogen. Der Erzähler schaltet sich zuerst indirekt in die Diegese der Figur Rosalie ein, die Erzählsituation kippt in eine homodiegetische« (Gerstenbräun 2012: 75). Und tatsächlich passiert streng genommen gar nicht mehr, als dass klar wird, dass Leo Richter nur der vorgeschobene Erzähler war, der tatsächliche Erzähler also nach wie vor als heterodiegetischer Erzähler außerhalb des Geschehens verbleibt.

Dass sich das so verhält, wird deutlich, wenn der Chauffeur auftritt, von dem Leo vorgibt, er kenne ihn nicht und wundere sich, wie diese Figur in seine Erzählung komme. Damit wird bestätigt, dass es sich eben nicht um eine Erzählung Leo Richters handelt. Der fiktive Autor ist lediglich eine Figur und als solche gleichrangig mit der Figur des Chauffeurs und auch Rosalies. Der Chauffeur erscheint dabei als eine Teufelsfigur (vgl. Rickes 2010). Als eine Art diaboli ex machina ist er durchaus als satirischer Kommentar auf den deus ex machina sowohl der klassisch-griechischen Tragödie als auch des zeitgenössischen Happy-End-Zwangs bei bestimmten Filmproduktionen aufzufassen. Gleichzeitig findet sich darin ein Verweis auf Goethes Faust. In diesem sagt Mephisto, also der Teufel, er sei »ein Teil von jener Kraft, / die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (Goethe 2000: 47). Und genau dies gelingt dem Chauffeur/Mephisto in »Rosalie geht sterben« ja auch. Im Endeffekt ist Rosalie nicht nur geheilt, sie ist auch wieder jung und obendrein schön. Welche bösen Absichten der Chauffeur auch gehabt haben mag, die Konsequenzen waren das Gute.

Ferner bestehen zwischen »Rosalie geht sterben« und der ersten der beiden Geschichten namens »In Gefahr« dahingehend auch intertextuelle Bezüge, als Leo Richter in letzterer einführend als »der Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz« (29) bezeichnet wird. Ob »Rosalie geht sterben« nun wirklich als »vertrackt« oder als »von leicht steriler Brillanz« bezeichnet werden kann, sei dahingestellt. Fest steht aber, dass dadurch ein Verweisungszusammenhang gestiftet wird, der in der zweiten Geschichte namens »In Gefahr« nochmals erweitert wird.

Die Frage, ob Leo Richter als Verfasser aller Geschichten zu gelten hat, kann allerdings dank Gerstenbräuner verneint werden. Richter ist ebenso eine Figur wie sämtliches anderes Personal. Tatsächlich verdankt sich das auch dem Umstand, dass noch zwei weitere homodiegetische Erzähler auftreten: Mollwitz und der Abteilungsleiter. Der heterodiegetische Erzähler des Ganzen ist dabei natürlich nicht mit Kehlmann identisch.

Veröffentlicht am 18. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. September 2023.