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Der zerbrochne Krug

Historischer Hintergrund und Epoche

Die Entstehung des Lustspiels »Der zerbrochne Krug« liegt zwischen dem Frühjahr 1802 und dem August des Jahres 1806. Die Anregung zu dem Stoff erhielt Kleist in Thun (Schweiz), wo er sich zwischen Februar und Juni 1802 aufhielt. Hier arbeitete er auch an dem Drama »Familie Schroffenstein« und entwarf das Stück »Robert Guiskard«.

Der politische Schriftsteller Heinrich Zschokke (1771-1848) berichtet in seinem autobiographischen Werk »Eine Selbstschau« (1842) von einem poetischen Wettkampf zwischen ihm, Kleist und Ludwig Wieland (1777-1819), zu dem ein in Zschokkes Zimmer hängender Kupferstich die Veranlassung gebildet habe:

    In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, »la cruche cassée«. In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden. – Kleist’s »zerbrochner Krug« hat den Preis davon getragen. (Zschokke, S. 204 f.)

Auch Kleist gibt in einer nicht veröffentlichten Vorrede zum »Zerbrochnen Krug« den Kupferstich als Vorlage an:

    Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Faktum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Deliktum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mißtrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug. Das Original war, wenn ich nicht irre von einem niederländischen Meister. (S. 259 der verwendeten Ausgabe)

Tatsächlich handelte es sich bei der Vorlage um einen von Jean-Jacques Le Veau (1729-1786) im Jahr 1782 geschaffenen Kupferstich mit dem Titel »Le juge ou la cruche cassée« (dt.: Der Richter oder Der zerbrochene Krug), der auf einem Gemälde Louis-Philibert Debucourt (1757-1824) beruhte, das 1781 in Paris unter dem Titel »Le juge du village« (dt.: der Dorfrichter) ausgestellt worden war (vgl. Abb. 8 in der verwendeten Ausgabe).

Es lohnt sich, den Gedächtnisfehlern Kleists und Zschokkes etwas genauer nachzugehen: Beide ordneten den zerbrochenen Krug der Mutter zu, der auf dem Bild aber am Arm des jungen Mädchens hängt. Die Haltung desselben zitiert ein berühmtes Gemälde des Rokoko-Malers Jean Baptiste Greuze (1725-1805) mit dem Titel »La cruche cassée« (1777, dt.: Der zerbrochene Krug, Abb. 9 in der verwendeten Ausgabe), das noch 1882 als das populärste Bild von Paris bezeichnet werden konnte. Unter Rekurs auf das Sprichwort »Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht« symbolisiert der zerbrochene Krug am Arm des Mädchens die verführte Unschuld. Der Maler Debucourt hat dies Bildmotiv nun in eine ›niederländische‹, das heißt das bäuerliche Milieu betonende Szene versetzt: So konnte die falsche Zuschreibung Kleists zustandekommen, die sich, als Gattungsbezeichnung für das gesamte Lustspiel, weit verfolgen lässt.

Um es kurz zu machen: Der niederländischen Manier, die Debucourt imitiert, entspricht der bäuerisch-dörfliche Realismus des Lustspiels, die an den zerbrochenen Krug gebundene erotische Thematik hingegen kann auf das bei Greuze entwickelte Rokoko-Motiv zurückgeführt werden.

In einem 1948 erschienen Aufsatz von Richard F. Wilkie ist als weitere Vorlage ein Dramolett von Christian Felix Weiße (1746-1804) mit dem Titel »Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er zerbricht; oder der Amtmann« (1786) hingewiesen worden, in dem sich der Richter und Kommissionsrat Herr Greif als der Schuldige entpuppt; er wird von dem Hofrat Biedermann seines Amtes enthoben – und diese, dem Gerichtsrat Walter vergleichbare Figur, hatte auf dem Kupferstich Le Veaus keine Entsprechung.

Der eben zitierten Vorrede Kleists ist der Hinweis auf ein anderes, wichtiges literarisches Muster zu entnehmen. Allerdings hat Hans M. Wolff bereits 1939 darlegen können, dass es im »König Ödipus« des griechischen Tragödienautors Sophokles eine Szene, in der Kreon auf Ödipus einen ähnlichen Seitenblick werfen könnte, wie der Gerichtsschreiber Licht auf Adam, nicht gibt. Ödipus nimmt das Risiko der Selbstpreisgabe um der Wahrheit willen in Kauf und erfährt erst im Laufe des Stücks von seiner eigenen Schuld – der Dorfrichter Adam hingegen versucht, die Wahrheit von Beginn an zu vertuschen. Abgesehen von der Übernahme der Grundkonstellation des schuldigen Richters und Ermittlers und der Übernahme des Klumpfußes (so die wörtliche Bedeutung des Namens »Ödipus«) ergeben sich also eher Verhältnisse spiegelbildlicher Umkehrung als einfacher Übertragung. Nicht zuletzt die Veränderung der Gattung (von der Tragödie zum Lustspiel) – und damit einhergehend: des Milieus – könnte hierfür verantwortlich gemacht werden.

Für die Darstellungen auf dem Krug, die Marthe in so eindrucksvoller Weise evoziert, können eine Bild- und eine Schriftquelle geltend gemacht werden. Eine ausführliche Beschreibung der auf dem Krug dargestellten Szene findet sich im zweiten Band, auf Seite 557-559 der deutschen, achtbändigen Übersetzung eines holländischen Geschichtswerks von Jan Wagenaar (»Allgemeine Geschichte der Vereinigten Niederlande, von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten«, Leipzig und Göttingen 1756-66, der Übersetzer ist Eobald Totze). Dort findet sich auf Seite 557 auch ein Kupferstich von Simon Fokke (1712-1784) mit dem Titel »Overdragt der Nederlanden door Keizer Karel den V. aan zynen zoon Filips, in’t jaar 1555«.

Wenn über die längere Niederschrift des Lustspiels nicht viel bekannt ist, erlaubt ein Brief vom 31. August 1806 an Otto August Rühle von Lilienstein die Annahme, dass im August 1806 die Arbeit am »Zerbrochnen Krug« abgeschlossen wurde.

Die wenig erfolgreiche Uraufführung, die am 2. März 1808 am Weimarer Hoftheater unter der Regie Goethes erfolgte (siehe hierzu den Abschnitt Rezeption und Kritik), veranlasste Kleist, für die 1811 erschienene Buchausgabe einige bedeutende Veränderungen vorzunehmen. Deren wichtigste bestand in der radikalen Kürzung des zwölften Auftritts, denn die Länge des Schlusses war von vielen für den Misserfolg der Aufführung verantwortlich gemacht worden. Kleist hatte hier Eve die insgesamt umfangreichste Schilderung der Ereignisse des Vorabends und ihrer Vorgeschichte machen lassen, zu einem Zeitpunkt also, als der Prozess entschieden und der Richter bereits geflohen war. Auch das Verhältnis Walters zu Eve ist in der ursprünglichen Fassung komplexer als in der Druckfassung: Walter muss dort mehr aufwenden, um das Vertrauen Eves zu gewinnen, um sie also glauben zu machen, dass nicht auch er sie betrügt und Ruprecht wirklich keine Versetzung nach Ostindien droht. Obwohl Kleist die dramaturgischen Argumente hat gelten lassen, fand er die längere Fassung des Schlusses für das vertiefte Verständnis des Stückes doch so wichtig, dass er sie als beigefügten Variant mitabdrucken ließ.

Darüber hinaus veränderte Kleist auch einzelne Passagen. Im sechsten Auftritt etwa kommt es zwischen Ruprecht und Eve zu einem kurzen Zwiegespräch. In der Handschrift gibt Eve der Furcht Ausdruck, ihn »[u]m eines Fehltritts, in der Angst getan« auf ewig zu verlieren, den sie, syntaktisch uneindeutig, mit dem Wunsch in Verbindung bringt, ihn von der Landmiliz zu befreien. In der Druckfassung fehlt dieser bedeutende Verweis auf das Geschehen vom Vortag. Hier beide Fassungen, zunächst die der Handschrift (zitiert nach S. 826 f. der vorliegenden Ausgabe):

    Eve: – Du gehst zum Regimente jetzt, o Ruprecht, | Dich führt der Krieg, der Himmel weiß, wohin. | Könnt’ ich dich von der Landmiliz befreien, | Um eines Fehltritts, in der Angst gethan, | Müßt’ ich auf ewig jetzo dich verlieren?

    Ruprecht: Und schickten sie mich auch zu Schiff hin, wo | Der Pfeffer wächst, und müßt’ ich gleich mich mit | Den Menschenfressern in der Südsee schlagen, | Geh! Auf zweitausend Meilen wird mir wohl sein. | Ich mag nichts von dir wissen. Laß mich sein.

Und die Fassung der Druckausgabe (V. 457-468):

    Eve: – Du gehst zum Regimente jetzt, o Ruprecht, | Wer weiß, wenn du erst die Muskete trägst, | Ob ich dich je im Leben wieder sehe. | Krieg ist’s, bedenke, Krieg, in den du ziehst: | Willst du mit solchem Grolle von mir scheiden?

    Ruprecht: Groll? Nein, bewahr’ mich Gott, das will ich nicht. Gott schenk’ dir so viel Wohlergehen, als er | Erübrigen kann. Doch kehrt ich aus dem Kriege | Gesund, mit erzgegoßnem Leib zurück, | Und würd’ in Huisum achtzig Jahre alt, | So sagt ich noch im Tode zu dir: Metze! | Du willst’s ja selber vor Gericht beschwören.

Die Zuordnung des Lustspiels zu einer bestimmten literarischen Epoche oder Strömung ist schwierig: Der zum Teil krude Realismus und der hintergründig sich ausdrückende Pessimismus des Stücks passen weder zur Weimarer Klassik noch zur Frühromantik. In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstanden aber Werke wie »Wilhelm Tell« von Schiller (1804), die Hymne »Patmos« von Hölderlin (1803, Erstdruck 1808), »Hymnen an die Nacht« von Novalis (1800), »Die Wahlverwandtschaften« von Goethe (1809), »Die natürliche Tochter« (1803) desselben Autors, »Childe Harold’s Pilgrimage« von Byron (1812), »René« von Chateaubriand (1802): Der weitere Epochenzusammenhang ist mithin der der europäischen Romantik.

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.