Skip to main content

Der zerbrochne Krug

Sprache und Stil

Das Stück »Der zerbrochne Krug« ist durchweg in Blankversen geschrieben, es gibt also weder Passagen in Prosa, noch eingefügte Lieder anderen Versmaßes, noch gereimte Szenenschlüsse oder sonst gereimte Passagen. Diese strenge Durchführung der für die sprachliche Gestalt grundlegenden Entscheidung trägt, wie im Dekor die Entscheidung, die Gerichtsstube als Schauplatz nicht zu verlassen, viel zur Einheit und Geschlossenheit des Stückes bei.

Der Blankvers erweist sich dabei unter Kleists Obhut als hinreichend flexibles, versifikatorisches Medium. Tatsächlich machen das geschilderte, dörflich-bäuerliche Milieu und der Naturalismus, zu dem sich der Autor bei seiner Schilderung verpflichtet sieht, Prosa als die allgemeine Äußerungsform wahrscheinlicher. In einem Shakespeare-Stück etwa wäre die Klassenzugehörigkeit des Personals dergestalt ausgedrückt worden: Falstaff, der als entfernter Verwandter des Richters Adam gelten kann, spricht in »Henry IV« mit seinen Kumpanen, anders als die im Blankvers redenden aristokratischen Figuren, Prosa.

Man könnte die Wahl des Blankverses für den »Zerbrochnen Krug« vorsichtig als eine Art doppelte Verneinung bewerten. Anders als in anderen Stücken der Epoche, wird die bäuerlich-dörfliche Sphäre kaum stilisiert, gewiss nicht idealisiert. Aber in diesem und durch diesen Naturalismus gibt es – die sprechenden Namen weisen darauf hin – dennoch so etwas wie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit. Der Blankvers behindert den Naturalismus nicht, und macht dennoch einen über den Naturalismus hinausgehenden Kunst- und Bedeutungsanspruch geltend.

Zum Tragen kommt der Blankvers als den sprachlichen Duktus prägender Vers in längeren, weiter geschwungenen Reden und wenn Verslänge und Satzlänge oft übereingebracht werden. Unterschreiten die Repliken die Verslänge, gibt es für das Publikum aufgrund des fehlenden Endreims kaum eine Möglichkeit, Metrum und Versgrenzen nachzuvollziehen. Nun ist das Reden in »Der zerbrochne Krug« ein tendenziell chaotisches, impulsives, aggressives, sprunghaftes Reden, das durch die Verfahrensregeln, durch das Erteilen und Entziehen des Worts, wie es in Gerichtsprozessen üblich ist, nur mühsam und unzureichend diszipliniert wird (vgl. nur das Ende von Ruprechts Aussage V. 961-1035). 

Den Ausrufen, Beleidigungen, Zwischenrufen und eiligen Fragen, die gewissermaßen das sprachliche Grundrauschen darstellen, stehen als besonders umständlich und lang empfundene Ausführungen der Zeugen entgegen – die denn ihre Unterbrechung durch diese Umständlichkeit und Länge gerade herausfordern. Adam spricht länger zusammenhängend überhaupt nur, wenn er seine Lügengeschichten erzählt, und in der ersten Konfrontation mit Walter. Dieser hat auch nur an dieser Stelle eine längere Partie, Licht und die Mägde haben gar keine, Veit immerhin eine (V. 1377-1392). Am ehesten zu einem gemessenen Ausdruck fähig scheint Eve (vgl. ihre Rede V. 1255-1273).

Kaum denkbar ist etwa, dass bei der folgenden Partie ein seinen Text lernender Schauspieler berücksichtigte, auf welchen Versteil seine Replik jeweils fällt:

Licht:                                  Nehmt den Rock.

Adam sieht sich um:

   Wer? Der Gerichtsrat?

Licht:                                  Ach, die Magd ist es.

Adam: Die Beffchen! Mantel! Kragen!

Erste Magd:                                    Erst die Weste!

Adam: Was? – Rock aus! Hurtig!

 

Die sprachliche Mimesis limitiert die Einsatzmöglichkeiten poetischer Stilmittel: Frau Marthe Rull, die Oxymora (eine aus zwei sich widersprechenden Begriffen bestehende Formulierung) gebraucht, Periphrasen (Umschreibungen) verwendet und in Allegorien (komplexen Metaphern) spricht, die Mythologeme (mythologische Versatzstücke) in ihre Rede einflicht und seltene Hyperbeln (Übertreibungen) benutzt, wäre ein Unding. Dennoch handelt es sich bei »Der zerbrochne Krug« um ein ausgesprochen poetisches Stück. Das liegt an der notgedrungenen Erfindungslust des um Ausflüchte bemühten Dorfrichters, und an den poetischen Elementen, die auch das redensartliche, niedrige Sprachregister reichlich bereithält, und die vom Autor kunstvoll platziert werden – man denke nur an die Eröffnungsverse. 

Schließlich werden Elemente der Geschichte selbst in poetische, das heißt Bedeutungen übertragende, Bedeutungen empfangende Bezüge versetzt. Wenn Marthe von dem gewaffneten Eber spricht, der Mühe hätte, durch das Spalier unter Eves Kammerfenster hindurchzukommen (vgl. V. 1524 f.), und Frau Brigitte von dem »schneezerwühlten Kreis, | Als ob sich eine Sau darin gewälzt« (V. 1723 f.), sind das einander entsprechende Metaphern für den an dieser Stelle eigentlich niedergesprungenen Adam. Und die körperlichen Eigenheiten des Dorfrichters – sein Durchfall, sein Klumpfuß, seine Kahlheit – fügen sich in der abergläubischen Einbildung der Dorfbewohnerin Brigitte zur Teufelsfigur, die damit für das Stück als möglicher Angelpunkt einer allegorischen Deutung installiert wird.

Es ist wie bei den Meistern der Altniederländischen Malerei: Die Lilie, die in einer »Mariä Verkündigung« auf dem Fenstersims in einer Vase steht, ist überzeugend in die räumliche Illusion integriert und in bestechendem Realismus ausgeführt, sie ist als Zierde der Schlafkammer Marias vollständig plausibel gemacht – und sie ist dennoch auch das aus der mittelalterlichen Ikonographie überkommene Symbol jungfräulicher Reinheit.

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.