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Der zerbrochne Krug

Auftritt 8-9

Zusammenfassung

(8)
Adam lässt sich von einer Magd ein Glas Wasser bringen. Er bietet Walter Wein an, den dieser ablehnt.

(9)
Adam macht einen halbherzigen und vergeblichen Versuch, den Prozess mit einem Vergleichsvorschlag frühzeitig zu beenden. Ob Lebrecht oder Ruprecht schuldig seien, kann er nicht sagen.

Da Eve nun aussagen soll, macht er einen weiteren, umständlichen Einschüchterungsversuch. Eve zögert lange, etwas zu sagen, und wird von Marthe und Ruprecht bedrängt: Marthe wünscht, es sei gestern ein unverfänglicher Besucher gewesen und nicht der Bräutigam, und Ruprecht wähnt weiter, es sei der Lebrecht. Schließlich schimpft Eve auf das Misstrauen Ruprechts, indem sie, ohne konkret zu werden, meint, Ruprecht habe ihr auf jeden Fall vertrauen sollen: Wenn sie ihn falsch bezichtigte, habe dies seinen guten Grund, den er einmal erfahren werde. Da er dieses Vertrauen nicht aufbringe, gestehe sie nun, dass er den Krug nicht zerschlagen habe. Als Adam also auf Lebrecht als den Schuldigen besteht, wendet sie sich an ihn, und verschafft Lebrecht ein Alibi, das auch Ruprecht bestätigen kann: Lebrecht sei mit dem Attest, das die Rekruten aushebt, nach Utrecht geschickt worden und könne an dem Abend noch nicht wieder zurückgewesen sein. Adam bestreitet dies.

Als Walter Eve nun auffordert, den gestrigen Hergang ausführlich zu erzählen, versucht Adam, sie bei Walter mit ihrer Scham zu entschuldigen; man solle sie entlassen. Tatsächlich bittet sie sich bei dem Gerichtsrat aus, der Aussage überhoben zu werden. Dass Ruprecht unschuldig sei, ist sie willens zu beschwören, doch die umständliche Erzählung würde sie zwingen, Dinge zu verraten, die nichts mit dem Krug zu tun hätten und nach denen ihre Mutter hier, vor dem Tribunal, zu fragen nicht das Recht hätte.

Die wütende Marthe, die bei erwiesenem Ehrverlust droht, Eve zu verstoßen, beharrt darauf, dass Ruprecht der Schuldige sei. Sie äußert den Verdacht, Ruprecht könne sie gestern wegen der anstehenden Einberufung zu einer Flucht zu überreden versucht haben. Sie gibt an, die Muhme Ruprechts, Frau Brigitte, könne bezeugen, Ruprecht und Eve um halb elf im Garten im Wortwechsel gesehen zu haben. Veit wird deswegen misstrauisch auf seinen Sohn: Er habe gestern Abend seine Sachen gepackt. Ruprecht begründet dies mit der drohenden Einberufung. Auch Veit droht nun damit, sollte Ruprecht der Verräterei überführt werden, ihn zu verstoßen. Walter ordnet an, nach einem vergeblichen Versuch Adams, ihn nun auf die Kassenprüfung zu lenken, man solle die Zeugin Brigitte herbeischaffen.

Analyse

Der ordentliche Gang des Prozesses steuerte bereits auf den Höhepunkt des Stückes zu, denn von Eves Aussage war die vollständige Aufklärung des gestrigen Hergangs und die Überführung Adams zu erwarten. Tatsächlich folgt auf die umständlichen Berichte Marthes und Ruprechts jedoch keine dritte Erzählung – diese gibt es erst im zwölften Auftritt, und ausführlich nur in dem dem Erstdruck beigefügten Variant (V. 2108-2303), also zu einem Zeitpunkt, als Adam schon überführt wurde und nicht mehr in der Gerichtsstube sitzt.

Eves Aussage zu diesem frühen Zeitpunkt bezieht sich allein auf ihre implizite Beschuldigung Ruprechts vom Vorabend. In überraschender Klarheit legt sie den Grund ihres Verhaltens offen, denn sie muss einsehen, dass der Versuch, Ruprecht ohne Absprache zum Komplizen der Deckung des Richters zu machen, gescheitert ist. Selbst wenn er sie mit Lebrecht hätte »aus dem Kruge trinken sehen« (V. 1170) – so formuliert sie ihren überzogenen Anspruch auf sein Vertrauen – hätte er denken sollen: »Ev‘ ist brav, | Es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen, […].« (V. 1171 f.)

Dass sie nicht nur Ruprecht, sondern auch Lebrecht entlastet, dazu gibt der Richter selbst den Anlass; denn da Ruprecht als Schuldiger entfällt, setzt er alles auf den zweiten Kandidaten Lebrecht. Dass Ruprecht ihr beipflichten und Lebrechts Alibi bestätigen muss, ist ein komischer Zug – denn er hätte ja zuvor, als er ihn noch beschuldigte, selbst darauf kommen können.

Die dritte Rede Eves, in der sie dem Gerichtsrat die Erzählung des gestrigen Hergangs verweigert, sticht in dem gegebenen sprachlichen Umfeld – Drängen, Beleidigen, Lavieren, Ausrufen, Drohen – durch eine gewisse Vornehmheit und Würde heraus und charakterisiert die Zeugin auf das Beste. Die Metapher von dem Garnstück, das um eines einzigen Fadens Willen, der durch das Gewebe laufe, nicht gefordert werden dürfe, deutet auf die Künstlichkeit, mit der im juridischen Verfahren die Lebenszusammenhänge analytisch gesondert werden und hebt sich in interessanter Weise von der sonst allgegenwärtigen Krug-Metapher ab.

Auch zu dieser ist wieder etwas anzumerken: »Den irdnen Krug zerschlug der Ruprecht nicht« (V. 1195), bezeugt Eve, und kurz darauf, den Krug niedersetzend, droht Marthe: »Hör, dir zerschlag‘ ich alle Knochen!« (V. 1199) Sofern – so ist die Logik dieser Assoziation – die Zerschlagung des Krugs auch Eves Ehrverlust bedeutet (weil der zerbrochene Krug den unerlaubten, abendlichen Besuch bezeugt), muss der Ehrverlust an Eves persönlicher Existenz, an ihrem Körper umgesetzt werden – sei’s durch körperliche Züchtigung, sei’s durch den Ausschluss aus der Familie.

Auffällig ist in dem Abschnitt ferner die Häufung von Redensarten, mit denen Adam implizit seine Schuld gesteht. Um auszudrücken, dass er nicht daran glaubt, dass Walter die Wahrheit anhand von Eves Aussage erfahren wird, sagt er: »Doch wenn ihr’s heraus bekommt, bin ich ein Schuft.« (V. 1092) Ähnlich gelagert sind die Stellen V. 1108, 1205, 1400.

Der Prozess steht mit Eves Schwur, Ruprecht habe den Krug nicht zerschlagen, kurze Zeit vor dem Aus: Mit ihrem Eid – so bemerkt es der Dorfrichter, der die Klugheit Eves im Umgang mit dem Gericht an dieser Stelle anerkennen muss (V. 1274-1278) – entfiele die Klage Marthes und die Verhandlung verlöre ihren Anlass. Nur dank der störrischen Hartnäckigkeit, mit der die Mutter ihren Standpunkt auch gegen die Aussage der Tochter noch vertritt, und dank der jetzt erst erwähnten Zeugin Brigitte, wird der Prozess fortgeführt. Dabei ersinnt Marthe eine Erklärung für den gestrigen Hergang und die aktuelle Weigerung ihrer Tochter, ihren Bräutigam zu beschuldigen, die ein zentrales Element des tatsächlichen Zusammenhangs falsch verknüpft: die drohende Konskription, die auch wegen Lebrechts Alibi schon thematisch wurde. Adam wäre eine Beendigung des Verfahrens aufgrund der nichtig gewordenen Klage sicher lieb gewesen, allerdings sieht er in der Zeugenaussage Frau Brigittes, die ihn offenbar nicht erkannt hatte, noch eine unverhoffte Chance, Ruprecht statt seiner schuldig sprechen zu können (vgl. V. 1346).

Dramaturgisch erfüllt der neunte Auftritt die Funktion des zentralen Handlungsumschlags, der Peripetie, die noch nicht die Katastrophe, das Handlungsziel also, darstellt, wohl aber die Alternativen zu diesem ausschließt und allenfalls noch retardierende, aufhaltende Elemente zulässt. Ruprecht und Lebrecht sind als mögliche Zerstörer des Kruges ausgeschieden, also muss es jemand Drittes gewesen sein. Die neu herbeizitierte Zeugin Brigitte sollte eigentlich dem bereits verlorenen Standpunkt Marthes zur rettenden Stütze dienen; stattdessen muss sie diejenigen Anhaltspunkte liefern, die doch noch zur Überführung des Schuldigen führen – und dies trotz der drastischen Fehlinterpretation ihrer eigenen Wahrnehmungen.

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.