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Der zerbrochne Krug

Auftritt 7

Zusammenfassung

(7)
Der ohne Perücke im Richterornat auftretende Adam versucht, vor dem Prozessbeginn mit Eve beiseite ein Wort zu reden, die sich dagegen sträubt. Er möchte wissen, was der Gegenstand der Klage sei, ob es nur um den zerbrochenen Krug gehe, und behauptet, er habe das falsche Attest, das Ruprecht von dem Kriegsdienst im fernen Osten befreit, in der Tasche. Zugleich macht er einen halbherzigen Versuch, die Prozessführung wegen Übelkeiten, die ihm seine Wunde am Schienbein bereiteten, an Licht abzugeben. Walter tadelt, dass er vor Beginn der Sitzung mit den Parteien spreche und fordert ihn auf, diese nun zu eröffnen.

Adam ist zerstreut, weil er sich wegen des Kruges zu erinnern sucht: Auf ihn hatte er gestern seine Perücke gehängt. Gegenüber dem Gerichtsrat erfindet er für das Gespräch mit Eve einen Vorwand: Er habe sie wegen eines an Pips erkrankten Huhns um Rat gefragt. Als Adam den Gerichtsrat fragt, ob er den Prozess nach Gewohnheits- oder nach formellem Recht führen solle, weist Walter diese Unterscheidung zurück: Er solle sich wie üblich nach den Formalitäten richten.

Adam beginnt den förmlichen Prozess, indem er die Personalien der anwesenden Personen aufnimmt, beginnend mit der Klägerin Marthe. Da sie Adam und allen anderen Anwesenden bestens bekannt ist, wirkt die umständliche Ermittlung ihres Namens, Wohnorts und Standes etwas lächerlich: Walter empfiehlt denn auch, sie zu überspringen. Adam überträgt diese Aufforderung, die Formalitäten abzukürzen, auch auf die weitere Prozessführung und versucht im Eildurchlauf, als folge er hierbei der Anweisung des Gerichtsrats, den Prozess durchzubringen, indem er den Krug als Klagegegenstand festsetzt und Ruprecht als Schuldigen ausmacht. Auf den Einspruch Walters hin beruft er sich vergeblich auf Huisumer Gewohnheitsrecht: Er muss schließlich doch Marthe das Wort erteilen.

Marthe eröffnet ihre Klage mit einer umständlichen Beschreibung des Krugs, auf dem die Übertragung Burgunds und aller siebzehn niederländischen Provinzen durch Kaiser Karl V. an seinen Sohn, den späteren König Philipp II., am 25. Oktober 1555 in Brüssel dargestellt war. Dabei kombiniert sie die Beschreibung des intakt gewesenen Bildes mit der Beschreibung seiner jetzigen Zerstörung. Sie fährt fort, indem sie die Geschichte des Krugs in ihren wichtigsten Etappen schildert, dabei Bezug nehmend auf einige historische Ereignisse, die der Krug unversehrt überstanden hat: die Eroberung der südholländischen Stadt Briel am 1. April 1572 durch die in Wirklichkeit Spanien unterstellten »Wassergeusen«, die Plünderung der Stadt Tienen in Brabant durch die siegreichen Franzosen, und die »Feuersbrunst von Sechs und sechzig« (V. 706). Besitzer des Krugs seien ein Kesselflicker Childerich, ein Totengräber Fürchtegott und ein Schneider mit Namen Zachäus gewesen. Unterbrochen von ungeduldigen Bemerkungen Walters und Adams schließt sie mit der Klage, der anwesende Ruprecht habe den Krug zerbrochen.

Darauf soll sie den Hergang erzählen: Gestern um elf Uhr habe sie in der Kammer ihrer Tochter laute Geräusche gehört; hinzueilend habe sie die Kammertür aufgesprengt gefunden und laute Schimpfreden vernommen; im Zimmer seien die Scherben des Krugs verstreut gewesen, habe Eve ihre Hände gerungen und Ruprecht getrotzt. Sie, Marthe, habe ihn zur Rede gestellt, worauf er angegeben habe, ein anderer habe den Krug vom Sims gestürzt, der gerade vor ihm aus der Kammer entwichen sei. Daraufhin habe sie Eve gefragt, ob es ein anderer gewesen sei, diese aber habe geschworen, Ruprecht sei’s gewesen.

Hier unterbricht Eve den Bericht ihrer Mutter: Sie habe nicht geschworen. Marthe beharrt weiter auf ihrem Zeugnis, auch Adam versucht, Eve von einem Widerruf ihrer angeblichen, gestrigen Bezichtigung Ruprechts abzuhalten, was wiederum der Gerichtsrat bemerkt und verdächtig findet, ja die Absetzung Adams als Dorfrichter andeutungsweise ins Spiel bringt. Indem er von dem vorgeschobenen, erkrankten Huhn spricht, erneuert Adam seine Drohung gegenüber Eve, die Versetzung Ruprechts nach Fernost geschehen zu lassen und geht zur Vernehmung des Beklagten, also Ruprechts, über.

Ruprecht berichtet, er habe gestern um zehn Uhr noch zu Eve, seiner versprochenen Braut, hinübergehen wollen, um wie gewohnt mit ihr am Fenster zu plaudern. Dass er nicht zu ihr hineingehen wolle, verspricht er seinem Vater noch. Er habe sich beeilt, denn nur bis zehn Uhr lasse Eve die Gartentür normalerweise offenstehen. Sich annähernd, hörte er die Gartentür knarren, und sah, dass sie jemanden bei sich hatte, konnte aber nicht genau erkennen, um wen es sich handelte. Jedoch verdächtigt er Lebrecht, der schon vorigen Herbst Anzeichen gemacht hat, dass ihm an Eve liegt. Er habe sich in einem Taxusstrauch verborgen und es eine Viertelstunde lang von innen Flüstern, Scherzen und Zerren hören, bis ihm der Kragen geplatzt sei, und er gewaltsam die Tür zu ihrer Kammer eingetreten habe. Im gleichen Moment sei jemand aus dem Fenster gesprungen und der Krug vom Gesims gestürzt. Ruprecht habe ihm mit der Klinke, die er noch in der Hand behalten, über den Kopf geschlagen, sei jedoch durch einen Wurf Sands in die Augen, der ihn ins Zimmer fallen machte, daran gehindert worden, ihm nachzusetzen. Marthe und die Nachbarn seien hereingekommen und Eve habe ihn auf Marthes Nachfragen hin bezichtigt, den Krug zerschlagen zu haben.

Während dieser Aussagen gibt Adam seine Befriedigung darüber zu erkennen, dass mit Lebrecht ein neuer Schuldiger gefunden werden kann; er beweist den regen Anteil, den er an der Schilderung des Kampfes nimmt, durch Ausrufe und führt mit Licht über die Art der Waffe, von der seine Kopfverletzungen rühren, eine kurze Nebenunterhaltung.

Nach der Aussage Ruprechts fordert Adam Marthe zur Entgegnung auf. Sie möchte gerne Eve als Zeugin aufrufen, wogegen Adam widerspricht. Doch der Gerichtsrat berichtigt ihn: Jetzt solle Eve ihre Erklärung abgeben.

Analyse

Adams Auftritt fällt mit dem Sitzungsbeginn nicht zusammen. Er selbst verzögert den Sitzungsbeginn, um Gelegenheit zu haben, Eve mehr oder weniger unauffällig wegen des Prozessgegenstandes zu befragen und sie erneut einzuschüchtern. Und ferner, um sich zu sammeln und zu erwägen, ob er sich um die Prozessführung drücken kann und um wegen des Anteils, den er an der Zerstörung des Krugs vielleicht haben könnte, sein Gedächtnis zu befragen. Der Richter erweitert und nutzt also das informelle Vorfeld der Sitzung, in das bereits die Gespräche des sechsten Auftritts gehört hatten.

Das richtige Tempo der dann endlich eröffneten Verhandlung muss erst gefunden werden. Adam beginnt übertrieben förmlich und langsam, wenn er, so als kenne er sie nicht, Frau Marthe nach ihrem Namen, ihrer Herkunft, ihrem Stand, Wohnort und weiteren Angaben fragt. Walter, der, anders als Adam, die förmliche Abkürzung solcher unnötigen Umständlichkeiten kennt (den Zusatz fürs Protokoll: »dem Amte wohlbekant« – V. 590), drängt auf eine Beschleunigung der Vernehmung, die Adam wiederum übertreibt. Er agiert, als habe Walter ihm aufgetragen, jedwede Förmlichkeit hintanzustellen (vgl. V. 612 f.), um in aller Eile den ihm erwünschten Prozessausgang herbeizuführen. Was er sich wünscht, ist, dass der Krug alleiniger Prozessgegenstand bleiben möge, und dass Ruprecht als Schuldiger festgestellt werde. Was er in diesem ersten, brachialen Anlauf durchzusetzen sucht, ist einfach die Version der Klägerin, die ja tatsächlich wegen des Kruges klagt und Ruprecht seiner Zerschlagung bezichtigt.

Von Walter, der klug mit der Ersetzung Adams durch dessen Schreiber das rechte Drohmittel gefunden hat (vgl. V. 614-618), zurechtgewiesen, gerät Adam etwas in den Hintergrund. Die Klägerin bestimmt nun das Tempo, und es ist, wegen der umständlichen Beschreibung des Krugs, wieder ein sehr langsames. Walter und Adam versuchen vereint, etwas Tempo in die Sache zu bringen, doch ohne viel Erfolg. Marthe geht von der Beschreibung des Krugs über zu der Geschichte seiner Besitzer, um dann den Hergang des letzten Abends aus ihrer Sicht zu schildern.

Auch Ruprecht, der nach ihr an der Reihe ist, erzählt eher umständlich zunächst von der Verlobung zwischen ihm und Eve. So bestimmt der erzählerische, eher schleppende Duktus der Zeugen das Grundtempo, von dem sich einige dynamische Spitzen abheben. So kommt es das erste Mal zu größerer Unruhe, als Eve bestreitet, gestern geschworen zu haben, Ruprecht habe den Krug zerschlagen. Vor allem Adam, dem viel an dieser Bezichtigung Ruprechts durch Eve liegen muss, greift hier ein, erneuert seine Drohung gegenüber Eve und macht sich Walter verdächtig. Ruprechts Aussage sucht er, in etwa wie zu Beginn der Verhandlung, durch einfache Unterstellungen abzukürzen, und wieder droht Walter mit der Ersetzung Adams durch seinen Schreiber, um den ordentlichen Gang der Verhandlung wiederherzustellen (vgl. V. 846-870).

Dass Ruprecht als möglichen Schuldigen dann seinen Rivalen Lebrecht ins Spiel bringt, bedeutet für Adam indes eine Entlastung: Sofort legt er sich auf diesen fest (vgl. V. 1010). Dabei vermag er nicht, der Erzählung Ruprechts von dem gestrigen Kampf zu folgen, ohne durch Ausrufe seine Beteiligung eigentlich zu verraten. Dass der Schreiber Licht schon klüger ist als die anderen Anwesenden, beweist seine beiseite geführte Erörterung über die Waffe, die Adam seine Kopfverletzungen zugefügt hat (vgl. V. 982-995). Auch Walter scheint nach der Vernehmung Marthes entschlossen, den Dorfrichter abzusetzen (vgl. V. 835).

Die Ekphrasis des zerbrochenen Krugs, mit der Marthe ihre Aussage beginnt, gehört zu den berühmtesten Gegenstandsbeschreibungen der deutschen Literatur. Der Krug wird in seiner Funktion als Bildträger angesprochen und seine Zerstörung auf der Ebene der Zeichenordnung veranschaulicht, der er als Medium diente – anstatt etwa von dem Bild abzusehen und den Krug als Krug, das heißt als Gefäß für Flüssigkeiten zu behandeln (Bsp. V. 661-665: »Hier im Gefolge stützt sich Philibert, | Für den der Stoß der Kaiser aufgefangen, | Noch auf das Schwert; doch jetzo müßt‘ er fallen, | So gut wie Maximilian: der Schlingel! | Die Schwerter unten sind jetzt weggeschlagen.«). Schon bisher hatte der Krug in metaphorischer Substitution für andere, abstrakte Gegebenheiten gestanden; jetzt zeigt sich, dass auf ihm eine historische Szene abgebildet war, die als nationaler Ursprungsakt der Niederlande gelten kann. Der Krug repräsentierte im dörflichen Kontext, im Haushalt der Frau Marthe Rull die allgemeine politische, die Rechts- und Gesellschaftsordnung, und die vermeintliche Unverbrüchlichkeit dieser Ordnung hat sich in den Augen seiner Besitzerin – das belegt die wunderliche Provenienz des Krugs – in quasi-magischer Art vom Bezeichneten auf das Bezeichnende übertragen.

Eine besondere Verdichtung der mittlerweile zahlreichen metaphorischen Verwendungen des Krugs steht am Ende der Aussage Ruprechts. Dort sagt er (V. 1040-1045):

    […] und Frau Marthe fragte | Die Jungfer dort, wer ihr den Krug zerschlagen, | Und die, die sprach, ihr wißt’s, daß ich’s gewesen. | Mein Seel‘, sie hat so Unrecht nicht, ihr Herren. | Den Krug, den sie zu Wasser trug, zerschlug ich, | Und der Flickschuster hat im Kopf ein Loch. –

Gemeint ist zunächst der eigentliche Krug. Dann nimmt er, entlang der Redewendung von dem Krug, der so lange zu Wasser geht, bis er bricht, die Bedeutung von Eves vermeintlicher, schon länger währender Untreue an (vgl. V. 941-944), der Ruprecht, eigentlich entgegen dem Sinn des Sprichworts, gewaltsam ein Ende gemacht habe. Schließlich legt die Parallelsetzung von dem Loch im Kopf des Flüchtigen und dem Loch im Krug eine Assoziation auch des Dorfrichters und des Kruges nahe. Und tatsächlich: Repräsentant der alten, frühneuzeitlichen, vormodernen Ordnung ist in dem gegebenen Kontext qua Amtsgewalt Adam, dessen Autorität im Laufe des Prozesses zerschlagen wird.

Die Abfolge der Aussagen richtet sich nach den Funktionen, die die jeweiligen Personen im Rahmen des Prozesses einnehmen: Zuerst kommt die Klägerin, dann der Beklagte, dann kommen die Zeugen. Dramaturgisch ist diese Reihenfolge insofern günstig, als sie eine graduelle Annäherung an den Kern des verhandelten Geschehens ergibt – und damit, aus der Perspektive Adams, eine Steigerung der Gefahr. Marthe kam erst dazu, als Adam bereits geflohen war. Ruprecht berichtete schon von der Vertreibung des Eindringlings, hat ihn aber nicht gesehen. Eve, die als nächstes aussagen soll, steht vor der unlösbaren Aufgabe, dass sie entweder jemand unschuldigen des heimlichen Besuchs bei ihr, und damit sich selbst eines unerlaubten erotischen Kontakts, oder aber Adam bezichtigen muss, von dem sie glaubt, dass er das Leben Ruprechts in den Händen hielte.

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.