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Der zerbrochne Krug

Auftritt 10

Zusammenfassung

(10)
Während Licht Frau Brigitte herholt, gibt es im Gericht eine Verhandlungspause. Adam lässt für sich und den Gerichtsrat Speisen und Getränke auftragen und möchte die Prozessparteien vor die Tür weisen, um dann Gelegenheit zu bekommen, mit Eve ein Wort allein zu sprechen, doch sie folgen seinen Aufforderungen nicht, außerdem kann Ruprecht bezeugen, dass Brigitte nicht weit ist und bald herkommen müsste.

Walter, der die Prozesspause zunächst verwünscht, weil sie Adam Luft gibt, lässt sich, seine Taktik ändernd, auf die Zecherei ein und unterzieht den Richter, während dieser mit der Bewirtung beschäftigt ist, einem unauffälligen Verhör. Er kommt auf seine beiden Kopfwunden zu sprechen und erfährt auf Nachfrage von Ruprecht, dass dieser dem Flüchtigen Hiebe versetzt habe. Wegen der fehlenden Perücke erfindet Adam eine neue Ausflucht: Sie sei ihm gestern beim Lesen in Flammen aufgegangen. Die Kratzwunden, die Adam ansonsten aufweist, passen zur Beschreibung des Weinstocks, der, nach der Aussage Marthes, beinahe undurchdringlich, unter Eves Kammerfenster wächst.

All dies deutet auf die Schuld Adams, dann aber verliert sich die Spur etwas, und Walter kommen Zweifel: Er erfährt, dass Adam Marthe nur selten besucht, dass er gar vor neun Wochen das letzte Mal im Vorübergehen bei ihr eintrat. Überraschenderweise bestätigt außerdem Frau Marthe, was Adam zum Prozessbeginn von dem an Pips erkrankten Perlhuhn geredet hatte, das Eve ihm retten sollte.

Analyse

Die Verhandlungspause löst vorübergehend die Festlegung Adams und Walters auf ihre jeweiligen Rollen als Verhandlungsführer und Supervisor und beide versuchen, daraus einen taktischen Vorteil zu ziehen. Adams Idee ist es offenbar, sich den Gerichtsrat durch eine reichhaltige Bewirtung gewogen zu machen und zugleich für eine Gelegenheit zu sorgen, mit Eve allein zu sprechen. Walter, der die Taktik durchschaut, kann die Veränderung der Rahmenbedingungen nicht verhindern, beschließt aber, sie zu seinem Nutzen zu gebrauchen.

Tatsächlich bleiben die Parteien anwesend, weil sich herausstellt, dass die Zeugin gleich erscheinen muss, und tatsächlich gerät Adam, weil er damit beschäftigt ist, Walter zum Trinken zu bewegen, aus der Deckung. Nur in dem nun geschaffenen informellen Rahmen kann der Gerichtsrat seinem inzwischen gefassten Verdacht gegen Adam nachgehen, ohne dessen Autorität sogleich in Frage stellen und die Verhandlung platzen lassen zu müssen. Wie weit Adam sein Amt selbst jetzt noch vor offenen Verdächtigungen schützt, wird deutlich, als Walter offensichtliche Schlüsse auch jetzt nicht zieht: »Wenn hier die Sache, | Wie ich fast fürchte, unentworren bleibt, | So werdet ihr, in eurem Ort, den Täter | Leicht noch aus seiner Wund‘ entdecken können.« (V. 1505-1508) Natürlich hat der Gerichtsrat, wenn er so spricht, Adam bereits im Sinn; dieser aber kann sich anscheinend darauf verlassen, dass Walter sich gegen ihn nicht weiter herauswagen wird, und ignoriert die Bemerkung. Auf der Bühne gilt es jeweils zu entscheiden, wie weit das Wissen um die Implikation dieser Bemerkung durch Tonlage und Verhalten der Schauspieler deutlich gemacht werden soll.

Dass das beiläufige Verhör nicht zur Hauptsache, und der Prozess nicht in der Verhandlungspause entschieden wird; dass der Auftritt im Gegenteil eine retardierende und entlastende Funktion hat, wird dadurch garantiert, dass der richtige Verdacht Walters nicht nur gestützt wird, sondern bei ihm als Verdacht in der Schwebe bleibt, weil sich einige Sachverhalte nicht so herausstellen, wie er vermutet hatte: Adam ist bei Marthe die letzte Zeit nicht ein- und ausgegangen, und was eine Ausrede schien (die Assistenz Eves bei der Geflügelzucht des Richters) erweist sich als wahr.

Gut zum Tragen kommen in dem Auftritt die Charakteristika der dörflichen Gerichtsbarkeit. Die Gerichtsstube – es ist wohl auch die Schlafstube des Richters (vgl. V. 4 f., als es um den Sturz gleich aus dem Bett geht: »Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? | Gestrauchelt bin ich hier; […].«) – dient vorübergehend als Speisezimmer; die Prozessparteien wurde hinausgewiesen, sind aber doch geblieben; nun sind sie noch anwesend, aber doch aus der jetzt gültigen, veränderten Interaktionsordnung, dem Imbiss von Richter und Gerichtsrat, ausgeschlossen. Nur gelegentlich können sie – und dann doch in ihrer Rolle als Prozesspartei – von Walter aufgerufen werden, um die ein oder andere Frage zu beantworten.

Die bemühte Geselligkeit des friedlichen Zechens und die vorübergehende Suspension der bisher von den Figuren in der Prozessordnung wahrgenommenen Rollen dient also in der insgesamt eher tumultuarischen und aggressiven Verhandlung der atmosphärischen Entlastung, ohne dass doch der Fortschritt der Handlung eigentlich vernachlässigt würde. Tatsächlich setzt Adam, ohne es recht zu merken, die Reihe der befragten Zeugen fort, und das erste Mal kommt Walter eine aktive, das Gespräch über eine längere Zeit führende Rolle zu. Er agiert taktisch klug und durchaus vorsichtig. Seine Einschätzung des Kenntnisstandes ist für den Zuschauer von großer Bedeutung, da allein ihm die Lösung des Konflikts zugetraut werden kann. Es zeigt sich, dass er einen Verdacht hat, dass dieser Verdacht aber noch nicht zur Gewissheit geworden ist. Diese noch bestehende Ungewissheit erhöht die Spannung: Wie kann die spät ins Spiel gebrachte Zeugin Brigitte den Prozess noch beeinflussen?

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.