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Der zerbrochne Krug

Auftritt 1-5

Zusammenfassung

(1)
In der Gerichtsstube des bei Utrecht gelegenen, niederländischen Dorfes Huisum tritt am 1. Februar der Gerichtsschreiber Licht zum Dorfrichter Adam, der sich gerade ein Bein verbindet. Licht erkundigt sich nach den offenkundigen Verletzungen des Richters: Dieser hat sich den rechten Fuß – ohnehin ein Klumpfuß – verrenkt; er hat eine große Wunde an der Wange; und auf der Nase und auf dem Auge Anzeichen eines groben Schlages. Die Wunden im Gesicht waren Adam nicht bewusst und werden ihm von Licht in einem Spiegel gewiesen. Nach dem Zustandekommen der Verletzungen gefragt, erfindet Adam einen morgendlichen Unfall: Er sei gleich beim Aufstehen gestolpert, habe sich an der am Ofengestell zum Trocknen aufgehängten Hose festhalten wollen, deren Bund sei gerissen und Adam mit dem Gesicht auf den Ofen geschlagen. Licht macht dazu zweideutige, etwas amüsierte Kommentare, die darauf schließen lassen, dass er die Ausflucht als solche erkennt.

Die Neuigkeit, die er zu bringen eingetreten ist, betrifft den unangemeldeten Besuch des neuen Gerichtsrats Walter, der auf einer Revisionsreise die dörfliche Justiz der Gegend begutachtet. Er sei gestern bereits in Holla gewesen, habe dort Richter und Schreiber ihres Amts enthoben und sei nun, wie ein Bauer bezeugte, auf dem Weg nach Huisum. Den suspendierten und in seinem Haus in Arrest gesetzten Richter in Holla habe man heute aufgehangen gefunden, aber ins Leben zurückbringen können. Der Vorgänger des neuen Gerichtsrats, Gerichtsrat Wachholder, hatte die Angewohnheit, Richter Adam vor einer Revision unter der Hand Bescheid zu geben.

Adam appelliert an seinen Schreiber, die Revision nicht zur Beförderung seiner Karriere zu nutzen, das heißt nicht auf eine Absetzung Adams und die eigene Einsetzung als Dorfrichter hinzuwirken. Er stellt dafür vage eine Belohnung in Aussicht, verweist für den Fall der Illoyalität jedoch auch auf mögliche Druckmittel.

(2)
Ein Bedienter des Gerichtsrats tritt ein und meldet, Walter werde gleich hier sein. Adam ruft in großer Aufregung seine beiden Mägde Liese und Grete, um sich anzukleiden. Er macht Anstalten, sich bei dem Bedienten wegen seiner schlechten körperlichen Verfassung zu entschuldigen, und schickt Liese in die Registratur, um Speisen und Getränke, und Margarete, um seine Perücke aus dem Bücherschrank zu holen. Indes berichtet der Bediente, Walter habe auf dem Weg einen Kutschunfall gehabt, die Deichsel des Wagens sei gebrochen und er habe sich seine Hand etwas verstaucht. Mit den beunruhigten Nachfragen nach dem Eintreffen des Schmieds habe Licht sich bloß gegeben, meint Adam, als der Bediente fort ist.

Liese kommt mit Würsten, die in Vormundschaftsakten eingeschlagen sind, und soll die Akten zurück in die Registratur bringen. Grete kann die Perücke im Bücherschrank nicht finden: Die beiden Mägde bezeugen, dass Adam gestern um elf Uhr ohne Perücke und mit blutigem Kopf ins Haus gekommen sei. Er meint jedoch, die Wunde habe er heute bekommen und die Perücke bereits gestern verloren. Adam erfindet dazu folgende Geschichte: Er habe die Perücke beim Betreten des Hauses aus Versehen mit dem Hut zusammen abgenommen – deswegen konnten die Mägde sie nicht sehen. Dann habe er sie beim zu Bett gehen auf einen Stuhl gehängt, den Stuhl habe er in der Nacht berührt, da sei sie hingefallen; am Morgen habe er sie unters Bett gestoßen und dort habe die Katze in die Perücke fünf Junge bekommen. Diese Geschichte soll Margarete der Küsterin melden und sich die Perücke des Küsters ausleihen.

(3)
Als Adam mit Licht wieder allein ist, kommt ihm in den Sinn, dass heute Gerichtstag ist. Die Kläger, meint Licht, stünden schon vor der Tür. Adam gibt einer bösen Vorahnung Ausdruck: Er habe geträumt, er werde als Beklagter vors Gericht gebracht und sei doch zugleich der Richter, der den Beklagten ohne Nachsehen verurteilte; worauf beide wieder zu einer Person geworden und geflohen seien und in den Fichten übernachtet hätten.

(4)
Gerichtsrat Walter tritt ein. Adam betont bei der Begrüßung die Überraschung, die sein Besuch bedeutet und Walter zeigt sich über die Wirkung, die sein Kommen bei den betroffenen Gerichten auslöst, im Klaren. Er streicht seinen guten Willen heraus und definiert seinen Auftrag: Er habe nur zu begutachten, nicht auch zu strafen und wolle den strengsten Maßstab durchaus nicht anlegen. Adam betont die Abgelegenheit Huisums, das von den neueren Entwicklungen in der Jurisprudenz kaum berührt werde und zeigt sich bereit, von Walter zu lernen, bezweifelt aber, dass schon heut alles so sei, wie er wünscht, weil eben sein Wunsch ihm, Adam, noch unbekannt sei.

Walter lässt sich den Schreiber Licht vorstellen und lehnt vorerst ab, auf einem Stuhl zu sitzen. Nach seiner Reise befragt, berichtet er knapp von dem Vorfall in Holla und fragt nach der Anzahl der von Adam verwalteten Kassen, die er um eine höher findet als erwartet. Er möchte dem Gerichtstag beiwohnen und sich dann erst um die Registratur und die Kassen kümmern.

(5)
Margarete kommt unverrichteter Dinge zurück: Der Küster kann Adam nicht mit einer Perücke aushelfen. Walter zeigt sich ob der Aussicht, Adam müsse kahlköpfig sein Amt versehen, erschrocken, drängt aber zur Eile und möchte, dass Adam zum Pächter aufs Vorwerk geht, nicht zugestehen. Er fordert ihn auf, sich fertig zu machen, inzwischen wolle er etwas in sein Büchlein notieren. Eine Bewirtung lehnt er ab. Angesprochen auf seine Verletzungen wiederholt Adam in Kurzform die Geschichte des morgendlichen Vorfalls.

Analyse

Die ersten beiden Verse charakterisieren das Stück bereits als analytisches Drama (»Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! | Was ist mit euch geschehn? Wie seht ihr aus?«), in dem nicht der Verlauf eines Geschehens abgebildet wird, sondern der Verlauf der Enthüllung eines vorgängig Geschehenen. Dieses Geschehene hat Spuren hinterlassen, die Fragen nach ihrer Verursachung provozieren. Der Körper des Schuldigen selbst weist solche Spuren auf: Damit – mit der Prominenz der körperlichen Dimension schon in der Eröffnung – ist die zweite generische Bestimmung des Stücks gegeben. Es ist ein Lustspiel.

Die Eröffnung leistet noch mehr. Der Schreiber Licht wirft die Frage auf, ob Adam bildlich oder unbildlich gefallen sei, und bringt eine Wiederholung des Sündenfalls als mögliche Erklärung für die Verwundungen Adams ins Spiel. Offenbar wäre ein solcher Vorfall – eine unerlaubte erotische Verwicklung – für den Dorfrichter nichts Ungewöhnliches (vgl. V. 62 f.). Wenn nun innerhalb des Stücks der Bezug auf die biblische Geschichte dem Schreiber lediglich zur schonenden Periphrase seiner Vermutung dient, bleibt er für das Stück insgesamt als möglicher Bezugspunkt gültig.

Vorgeführt wird schließlich über die ersten sechzig Verse hin die sprachliche Vitalität des Richters, der seine Erfindung, wenn ihm neue, eigene Verletzungen gewiesen werden, nach Bedarf modifiziert und erweitert. Licht hat offenbar, ohne überzeugt zu werden, sein Vergnügen daran, die Erfindungsgabe seines Vorgesetzten herauszufordern und in Aktion zu sehen und es ist möglich, dass Adam eigentlich auf dies Vergnügen und auf diese Herausforderung reagiert und nicht eigentlich zu überzeugen versucht: Ein Darsteller könnte diese Deutung forcieren (auch die zweite Erfindung Adams, die Ausrede wegen der fehlenden Perücke, könnte so vorgeführt werden: Adam gibt ja hauptsächlich der Magd auf, was sie der Küstersfrau als Erklärung vortragen soll; Licht hingegen sekundierte genüsslich der Ausbuchstabierung der auch von ihm durchschauten Lüge – vgl. V. 240-260). Damit wäre neben dem analytischen und dem Lustspielcharakter, neben der mitlaufenden grundsätzlichen Ebene ein viertes Charakteristikum des Stücks definiert: die Komplexität der in ihm exponierten Kommunikationssituationen.

Der Autor eines analytischen Dramas hat besonders streng über die Verteilung von Informationen zu wachen – genauer: über die Informationen, die das Geschehen betreffen, das im Verlauf des Stücks enthüllt werden soll. Diese Informationen sind dramaturgisch sein teuerstes Gut, das er nicht leichtfertig und vor der Zeit verschleudern darf. Dabei kann er sie mehrfach einsetzen, je nachdem, wer informiert werden soll: Am wichtigsten ist freilich die Informierung des Publikums, aber auch die Aufklärung von Figuren der Bühne kann dem Publikum Lust bereiten und Spannung erzeugen, wenn es auch selbst schon im Bilde ist.

Die Notwendigkeit, mit den Informationen über das zentrale Geschehen streng hauszuhalten, hat Folgen für die Exposition: Tatsächlich ist über die ersten 412 Verse (etwas weniger als ein Viertel des Stücks) von der in dem Gerichtsverfahren zu verhandelnden Klage, von Eve, Marthe, Ruprecht und von dem zerbrochenen Krug noch nicht die Rede. Dennoch wird der Zuschauer auf diese Figuren im sechsten Auftritt nicht unvorbereitet treffen. Er weiß mit den ersten zwei Versen, dass etwas mit Adam vorgefallen ist und er weiß, dass der Dorfrichter den Vorfall, der seine Verletzungen verursacht hat, verbergen will; die Andeutungen Lichts lassen ihn schließen, dass das, was verborgen werden soll, wahrscheinlich erotischer Natur ist.

Gleich zu Beginn ist der Zuschauer mit den wichtigsten Indizien, die zur Überführung Adams beitragen sollen, schon vertraut – sie befinden sich an seinem Körper: Das sind der verrenkte Fuß, die Wunde im Gesicht und das blaue Auge. Eine Ebene weiter, die Kleidung betreffend: die nasse Hose und die fehlende Perücke. Angesichts der bis zum dritten Auftritt schon gegebenen Hinweise ist der Traum Adams von seiner Doppelrolle als Richter und als Beklagter als vorausdeutendes Element beinahe überflüssig.

Die Exposition dient auch dazu, den Rahmen der dann folgenden Gerichtsverhandlung festzusetzen. Dies ist die eigentliche Neuigkeit, wegen der Licht in die Gerichtsstube tritt: Adam sieht sich durch die unangemeldete Überprüfung der dörflichen Justiz durch den neuen Gerichtsrat Walter unter enormen Druck gesetzt. Er geht gar nicht davon aus, vor der Prüfung bestehen zu können und gibt sich lieber gleich lern- und besserungswillig (vgl. V. 311-321). Der missglückte Selbstmord des Richterkollegen Pfaul in Holla, der vorherigen Station Walters, macht böses ahnen, und Walter, sich dessen bewusst, betont seine guten Absichten und die Begrenzungen seiner Amtsbefugnis: Er solle nur sehen, nicht schon strafen. Die Prüfung des Dorfrichters wird auch zur Prüfung seines Verhältnisses zu seinem ehrgeizigen Schreiber – dies wird in den letzten Passagen des ersten Auftritts deutlich, in denen Adam Andeutungen einer möglichen Bestechung und einer möglichen Erpressung kombiniert, um Licht davon abzuhalten, durch Walters Besuch die Chance einer schnellen Beförderung zum Dorfrichter zu nutzen.

Bei all den übergeordneten Funktionen, die der erste Teil des Stücks zu erfüllen hat, sollte die Fülle der komischen und sprechenden Einzelheiten nicht außer Acht geraten, mit der der Zuschauer von Beginn an konfrontiert wird. Nur ein Beispiel:

Der Privathaushalt des Dorfrichters und die Institution des Gerichts sind aufgrund der engen lokalen Verhältnisse nur mit großer Mühe voneinander zu scheiden – einer Mühe, die der impulsive, lebensfreudige Adam nur bedingt auf sich nimmt: Die Braunschweiger Wurst, die die Magd Liese aus der Registratur holt, sind in Pupillenakten, also Vormundschaftsakten eingeschlagen (V. 215-218).

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.