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Der zerbrochne Krug

Auftritt 6

Zusammenfassung

(6)
Die Prozessteilnehmer treten ein: Das sind Frau Marthe Rull mit ihrer Tochter Eve sowie der Bauer Veit Tümpel mit seinem Sohn Ruprecht. Marthe redet wegen eines zerbrochenen Krugs wütend auf Veit ein. Dieser wäre bereit, ihn zu ersetzen, doch Marthe streitet die Möglichkeit einer Entschädigung ab. Ruprecht beschwichtigt seinen Vater: Es gehe Marthe nicht um den Krug, sondern um die Hochzeit zwischen ihm, Ruprecht, und Eve, die sie zu retten suche. Er aber will die Hochzeit nicht mehr und beschimpft Eve als Metze. Marthe bestreitet, ihr sei an der Hochzeit noch irgendwie gelegen. Eve beschwört Ruprecht, ihr noch einmal Gehör zu geben, er müsse ja jetzt in den Krieg. Er aber wiederholt seine Beschimpfung. Marthe möchte Eve die Anhänglichkeit an Ruprecht ausreden: Der Korporal Holzgebein wäre ein besserer Partner für sie. Auch Eve bietet ihr an, sich um die Reparatur oder den Ersatz des Krugs zu kümmern, aber Marthe wendet ein, Eves guter Name hinge an dem Krug: Nur die gerichtliche Aufklärung und Bestrafung könne ihre Ehre wiederherstellen.

Analyse

Förmliche Regelungen von Kommunikation unter Anwesenden – wie ein Gerichtsprozess, eine Unterrichtsstunde, eine politische oder festliche Versammlung, eine Fahrstunde oder ein Gottesdienst – erzeugen ein ungeregeltes Vorfeld, in dem die erforderlichen Personen bereits anwesend sind, die jeweilige Redeordnung aber noch nicht greift. In dem vorliegenden Fall muss der Richter den Prozess eröffnen: Zuerst ist er noch nicht da (Auftritt 6), und selbst wenn er im siebten Auftritt erscheint, wird er die besonderen Interaktionsmöglichkeiten vor der Eröffnung der Sitzung zu nutzen suchen.

Die chaotische Auseinandersetzung der Prozessteilnehmer vor dem Eintritt Adams führt die Notwendigkeit einer Zivilisierung des Streits im Gerichtsprozess lebhaft vor Augen. Dabei gibt es zwei aggressive und zwei beschwichtigende Figuren. Eves Mutter richtet ihre Schimpfreden hauptsächlich an Ruprechts Vater Veit, der sie durch die Aussicht auf eine gerichtliche Klärung und einen Schadensersatz zu beruhigen sucht. Ruprechts Aggression aber geht gegen Eve, der er die Verlobung aufkündigt, die er als leichtfertige Dirne, als Metze verächtlich zu machen sucht; während Eve, angesichts des beginnenden Kriegsdienstes Ruprechts, das vertraute Verhältnis zu ihm zu retten, ja durch »ein einz’ges Wort« (V. 456) das bestehende Missverständnis zwischen ihnen aufzuklären sucht. In dieser symmetrischen Konstellation, in dem die Angriffsrolle gleichsam die Runde macht (Marthe wettert gegen Veit; Ruprecht greift ein; Ruprecht wettert gegen Eve; Marthe greift ein; Marthe wettert gegen Ruprecht und Veit), werden zwei Fragen verhandelt. Erstens: Was ist der Streitgegenstand? Und zweitens: Was ist der mögliche Nutzen des Gerichtsverfahrens?

Als Streitgegenstand kommen drei Dinge in Betracht: der Krug, die eheliche Verbindung Ruprechts und Eves, und der gute Ruf Eves – also ein mögliches erotisches Vergehen. Die Heftigkeit, mit der Marthe ihre Klage wegen des zerbrochenen Krugs vorbringt und ihr Unwille, sich mit irgendeiner Art Entschädigung zufriedenzugeben, legen den Verdacht nahe, dass es sich bei dem Krug nur um einen vorgeschobenen, nicht um den eigentlichen Streitgegenstand handelt. Ruprecht macht hier einen ersten Vorstoß (es gehe Marthe darum, die Verbindung zwischen ihm und Eve zu retten), der jedoch von Marthe abgeschmettert wird. Tatsächlich zeigen ihre Bemerkungen gegenüber Eve kurz darauf, dass sie ihre Tochter lieber mit dem Korporal Holzgebein verbunden sähe. Erst als Eve ihrerseits, wie zuvor Veit, ein Entschädigungsangebot macht, rückt Marthe mit dem eigentlichen Grund ihrer Wut heraus.

Dabei ist zu beachten, dass bei allen erwogenen Substitutionen des Krugs derselbe von Marthe als metaphorischer Bildträger mitgeführt wird:

    Und stünd‘ die Hochzeit blankgescheuert vor mir, | Wie noch der Krug auf dem Gesimse gestern, | So faßt‘ ich sie beim Griff jetzt mit den Händen, | Und schlüg‘ sie gellend ihm am Kopf entzwei, | Nicht aber hier die Scherben möchte‘ ich flicken! (V. 448-452)

    Dein guter Name lag in diesem Topfe, | Und vor der Welt mit ihm ward er zerstoßen, […]. (V. 489 f.)

Veit richtet an den Prozess so vernünftige wie gewöhnliche Erwartungen: Er erhofft sich eine Klärung der Schuldfrage und eine Schlichtung des Streits durch eine Schadensersatzleistung (vgl. V. 423 f.). Der vehemente Widerspruch Marthes setzt linguistisch an: Sie missdeutet das von Veit gebrauchte Verb »entscheiden« im Sinne der Aufhebung einer Scheidung, also eines Zusammenfügens der Scherben des zerbrochenen Krugs. Ähnlich geht sie mit den Verben »ersetzen« und »entschädigen« vor. Ihren forcierten Fehldeutungen liegt jeweils eine besondere semantische Einengung des betroffenen Präfixes zugrunde. Das Präfix »ent-« deutet sie analog zu Wortbildungen wie »entwirren«, »entdecken«, »enthüllen«, in denen die Vorsilbe ein Rückgängigmachen des im Grundverb angezeigten Vorgangs bezeichnet. Das Präfix »er-« in »ersetzen« hingegen sieht sie als Signal des erfolgreichen Abschlusses einer Tätigkeit im Sinne von Verben wie »ersteigern«, »erwerben«, »erklimmen«. So bemüht die Wortspiele an dieser Stelle wirken mögen, liegt ihnen doch die Einsicht in die notwendige Begrenztheit gerichtlicher Wiedergutmachung zugrunde. Die Justiz ist in der Tat kein »Töpfer« (V. 434), das heißt, sie kann dasjenige nicht selbst wiederherstellen, dessen Beschädigung und Zerstörung nach ihren Regeln Verhandlungssache wird.

Um so mehr mag es überraschen, wenn gerade Marthe an der Notwendigkeit, den Prozess zu führen, am Schluss des Auftritts unbedingt festhält. Nicht, um die Ersetzung des Krugs einzuklagen braucht sie ihn, sondern weil er das einzige Mittel sei, die Ehre ihrer Tochter wiederherzustellen. In der charakteristischen Vermischung eigentlichen und übertragenen Sprechens drückt sie diesen Vorgang in einer Handwerksmetapher aus. In dieser, der Reputationsfrage, ist der Richter nun doch »Handwerksmann«, den es braucht, »Wenn’s unsre Ehre weiß zu brennen gilt, | Und diesen Krug hier wieder zu glasieren« (V. 496 f.) – dabei wird man sich eine deutende Geste in Richtung Eve, womöglich in Richtung ihres Schoßes denken dürfen.

Obgleich die zuletzt gegebenen Antworten auf die beiden aufgeworfenen Fragen gewiss das größte Gewicht haben, werden die anderen Antworten im Laufe des Stücks weiter mitgeführt. Es geht also um einen zerbrochenen Krug, um das Liebesverhältnis von Ruprecht und Eve und um einen möglichen Ehrverlust Eves aufgrund eines erotischen Fehltritts; der Gerichtsprozess kann den entstandenen Schaden nicht ungeschehen machen, er könnte aber den Streit schlichten und den ermittelten Schuldigen zur Leistung eines Schadensersatzes zwingen, und er könnte Eves guten Ruf wiederherstellen.

Die Abwesenheit Adams in der sechsten Szene erlaubt es Kleist, den Vorfall von dem zerbrochenen Krug unabhängig von dem Vorfall einzuführen, der zu Beginn des Stücks Thema war. Allein die erotische Natur der möglichen Verfehlung Eves erlaubt es vorerst, eine Verbindung herzustellen. Sobald der Dorfrichter im siebten Auftritt wieder erscheint, ist die Sache für den Zuschauer eindeutig: »Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?« (V. 500) – so lautet sogleich seine nur bei sich geäußerte, nur dem Publikum vernehmliche Befürchtung.

Am schwierigsten verständlich mag auch jemandem, der grundsätzlich mit dem Stück und dem Fall vertraut ist, das Verhalten des Liebespaars erscheinen. Eve hat am Vorabend, nachdem Ruprecht Adam, ohne ihn zu erkennen, in die Flucht geschlagen hat, und nachdem die aufgebrachte Marthe und die Nachbarin erschienen sind, nicht bestritten, dass Ruprecht der heimliche Besucher war. Denn Adam, von dem sie weiterhin hofft, dass er Ruprecht von der vermeintlich drohenden Versetzung nach Ostindien bewahren wird, will sie nicht belasten; und jemand anderen anzugeben geht gegen ihre Ehre. Sie hofft, Ruprecht werde ihr, wenn er nur den Grund ihres Verhaltens erführe, schon verzeihen – deswegen bittet sie ihn auf ein Wort beiseite. Ruprecht sieht sich von ihr des unerlaubten Besuchs bezichtigt und meint zugleich zu wissen, sie habe jemand anderen heimlich empfangen.

    Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.