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Der zerbrochne Krug

Interpretationsansätze

»Der zerbrochne Krug« bietet für eine über das vordergründige Geschehen hinausgehende Interpretation mehrere Ansatzpunkte, die in teils unterschiedliche Richtungen weisen. Allen diesen Verweisen nachzugehen und diese anhand ihrer entwickelten Deutungen in Einklang zu bringen, ist ein schwieriges Geschäft. Tatsächlich hat das Lustspiel Deutungen im Rahmen ganz unterschiedlicher Diskursfelder hervorgerufen.

Archetypische Konstellationen

Die große Geschlossenheit und Einheit des Stückes auf den Ebenen des Raums, der Handlung, der Zeit und der Sprache täuschen leicht darüber hinweg, wie Kleist Konstellationen unterschiedlicher literarischer Traditionen miteinander verknüpft.

Seit der »Poetik« des Aristoteles gilt die Tragödie »König Ödipus« als Mustertragödie. Von ihr übernimmt Kleist die analytische Form und das Motiv des schuldigen, in eigener Sache ermittelnden Richters.

Nimmt man das beinahe auseinandergebrachte Liebespaar ins Zentrum, ergibt sich ein Verweis auf einen archetypischen Komödienplot, in dem die junge Generation sich gegen die Vertreter der älteren Generation durchsetzen muss. Adam übernimmt demnach die Funktion des lüsternen Alten, der das junge Liebesglück stört. Seine Bestrafung besteht in seiner körperlich akzentuierten Beschämung. Spätestens der Durchfall, an dem er auf seiner Flucht leidet, macht ihn als Prätendenten Eves lächerlich.

Die sprechenden Namen verweisen auf die Sündenfallgeschichte. Wenn aber der Sündenfall in einem Gerichtsverfahren behandelt wird, steht gleich – am anderen Ende der Heilsgeschichte – das Jüngste Gericht als Folie bereit. Für die Strukturierung des Plots gibt das Kapitel aus der Genesis nicht viel her – Eve selbst wurde ja nicht verführt, und sie verführt auch nicht aktiv; entscheidend ist einzig der Schritt zur Verallgemeinerung des Vergehens, dessen Adam sich schuldig gemacht hat.

Durch die Identifikation Adams mit dem ersten Menschen soll dem Zuschauer die Identifikation mit dem Richter aufgedrungen – oder jedenfalls eine allzu deutliche wohlfeile Distanzierung verwehrt werden. Letztlich erweist Adam sich als unfähig, zu seinem Vergehen eine verantwortliche, öffentlich vertretbare Haltung zu entwickeln. Er wird aus seinem Amt und seiner Wohnung vertrieben – und kann doch ein gnädiges Urteil erwarten.

Die Spontanität, der Witz, die Sinnlichkeit und Unordnung, die den Richter auszeichnen, verweisen auf den dionysisch-mythologischen Bereich, auf Satyrn und Faune. Hierauf deuten auch der auf dem Ofen aufgemalte Ziegenbock, mit dem gefochten zu haben Adam Licht gegenüber vorgibt (V. 50 f.) und der Eber im Weinstock, dem Brigitte die Verwüstung des Spaliers unter Eves Fenster zutrauen würde (V. 1524 f.).

Schließlich identifiziert Frau Brigitte Adam, als sie ihn deutlicher nicht erkennen kann, aufgrund einiger körperlicher Merkmale mit dem Teufel – dem Adam denn auch gerne die Unregelmäßigkeiten seiner Amtsführung anlasten möchte (V. 1794-1800).

Wie zu sehen, vereint die Hauptfigur gleich mehrere Verweise, die einander teilweise widersprechen. Im mythologischen Kontext symbolisieren die angesprochenen Naturwesen bestimmte menschliche Eigenschaften: Ihr poetisches Potenzial liegt darin, dass sie gerade den ganzen Menschen nicht darzustellen Anspruch erheben, von dem ein Abbild sich nur dank der Komplementarität vieler solcher Symbolisierungen ergibt. Der Verweis auf Adam hingegen hebt alle Differenzen innerhalb des Menschen und der Menschen untereinander – bis hin zur Differenzierung in zwei Geschlechter – auf. Der Ödipus-Verweis wiederum bringt die Positionierung des Protagonisten in einer sozialen Hierarchie mit sich – auch Adam ist, im Kontext des Dorfes, eine Art König, ein Patriarch.

Der Krug als Bedeutungsträger

Schon im Stück, schon von dessen Figuren bekommt der Krug eine ganze Reihe von Bedeutungen zugewiesen und dieses Spiel kann außerhalb des Stückes, von Seiten der interpretierenden Literaturwissenschaft, munter fortgesetzt werden.

Wie bei dem Dorfrichter Adam gibt es auch für den Krug Anzeichen einer exemplarischen Funktion. Dient das Gerichtsverfahren in Huisum als Muster des Gerichts über den sündigen Menschen schlechthin, veranschaulicht der zerbrochene Krug den entsprechenden Schadensfall: die unhintergehbare Zerstörung einer einmal gewesen Ganz- und Einheit, wie ja auch der Sündenfall laut Bibel darin besteht, dass der Mensch Gut und Böse zu scheiden lernt. 

Tatsächlich gibt es eine literarische Tradition auch für die bildnerische Totalisierung von Gebrauchsgegenständen: Hephaistos schmiedet Achilles im 18. Gesang der Ilias ein Schild, auf dem der gesamte Kosmos abgebildet ist. Von dieser homerischen Ekphrasis gibt es viele Nachahmungen und Abwandlungen – unter anderem auch, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Lustspiel »Der zerbrochne Krug«, in einer gleichnamigen Prosa-Idylle Salomon Gessners (1730-1788), die Kleist bekannt gewesen sein dürfte. Dort liegt ein ziegenfüßiger Faun nach durchzechter Nacht unter einer Eiche und beklagt, aufgewacht, dass sein Zug zerbrochen daliegt. Junge Hirten haben ihn, als er noch schlief, festgebunden und fordern nun ein Lied von ihm. Er singt von dem zerbrochenen Krug, das heißt er beschreibt, was darauf abgebildet war: drei mythologische Szenen (Syrinx, Europa, Bacchus).

Sowohl die homerische Bildbeschreibung als auch die Darstellungen auf dem Krug des gefesselten Fauns zielen auf zeitlose Gültigkeit. Auf Marthes Krug befand sich aber ein Historienbild – die Wiedergabe eines geschichtlichen, datierbaren, staatspolitischen Ereignisses. Repräsentiert wurde mit dem Ursprungsakt die aktuelle politische und rechtliche Ordnung – die zu Bruch gehen kann. Nur dank der Geschichtlichkeit des Dargestellten kann so auch das Zerbrechen des Bildträgers symbolisch als Zerbrechen einer geschichtlichen Ordnung gedeutet, und mit den Geschehnissen in der Gerichtsstube, wo ebenfalls eine alte Herrschaft zu Bruch geht, kurzgeschlossen werden.

Geschichtliche Perspektiven

In vielerlei Hinsicht herrschen in dem niederländischen Dorf Huisum noch vormoderne Verhältnisse. Die gesellschaftlichen Funktionsbereiche sind nur unzureichend voneinander getrennt. Deutlich wird dies bereits auf der Bühne, wenn die Gerichtsstube zugleich Schlafstube des Richters ist, und wenn in ihr, während der Verhandlungspause, munter gespeist und gezecht wird. 

Adam möchte gerne zwischen lokalem Gewohnheitsrecht und nationalem, formellem Recht unterscheiden und meint, in dem er die ihm bestens bekannte Klägerin Marthe umständlich nach ihrem Namen, Wohnort und ihren Lebensumständen befragt, die Lächerlichkeit einer formal korrekten Verhandlungsführung unter dörflichen Verhältnissen bloßstellen zu können. Unter Walters Vorgänger hatte Adam nicht viel zu fürchten – auch er betrieb, was in der modernen Perspektive als Korruption bezeichnet werden müsste. Insofern erscheint Walter, der mit dieser Praxis bricht, als Repräsentant eines neuen, die funktionale Differenzierung (das Absehen von persönlichen Verhältnissen in Amtsangelegenheiten) konsequenter durchsetzenden Regimes.

Dass in der Komödie gegen abstrakte Regeln für das Körperliche, das Persönliche und Lebensnahe Partei ergriffen wird, ist nichts Neues. Doch Kleist suggeriert durch das Zusammenspiel mehrere Elemente den Untergang des dörflichen Mikrokosmos, in dem einander Widersprechendes im ungeordneten, konfliktreichen, menschlichem Zugriff aber nie entzogenen Nebeneinander koexistiert. 

Schließlich ist auf dieser Seite der Unterscheidung – auf der Seite des Dorfes und der Vormoderne – diejenige sprachliche Potenz beheimatet, die allenfalls dem Faktum der Sünde und des Bruchs einer genossenen Einheit etwas entgegensetzen kann: Das ist der Mut zur kontrafaktischen Erfindung auf Seiten Adams und die erstaunliche, sprachliche Rekonstruktion des zerschollenen Gefäßes auf Seiten der Klägerin Marthe.

Veröffentlicht am 2. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2023.