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Leutnant Gustl

Historischer Hintergrund und Epoche

»Leutnant Gustl« ist ein Text der klassischen Moderne. Er gehört an den Beginn der mittleren Schaffensperiode Arthur Schnitzlers.

Die Novelle ist auf vielfache Weise an die Zeit ihrer Entstehung gebunden. Ihre Datierung auf den vierten April verweist auf eine am 4. April 1900 stattgefundene Aufführung des Oratoriums »Paulus« (1836) von Felix Mendelssohn Bartholdy im Wiener Musikverein. Ein zeitgenössischer Leser könnte also zu dem Schluss gekommen sein, gewissermaßen mit Gustl das Konzert gehört und in der Schlange an der Garderobe gestanden zu haben. Die Nennung bekannter Sängerinnen und des Berufsathleten Jagendorfer sind ebenfalls Indikatoren dafür, dass Gustl sich in derselben Welt bewegt wie die Wiener Zeitgenossen.

Schnitzler selbst notiert zu seiner Novelle:

    Zum Teil nach einer tatsächlich vorgefallenen Geschichte, die einem Bekannten von Felix Salten passiert ist, einem Herrn Lasky (?), im Foyer des Musikvereinssaals. (Renner 41)

Neben diesen konkreten Bezügen auf reale Ereignisse und Personen gibt es vielfältige thematische Bezüge zur aktuellen gesellschaftlich-politischen Gemengelage. Die Novelle ist von Seiten der militaristischen Kritiker als Versuch verstanden worden, einen allgemeinen Typus des k. u. k. Offiziers zu entwerfen. Tatsächlich erscheint Gustl als eine Figur, die die Anschauungen und Verhaltensweisen ihrer sozialen Bezugsgruppe weitgehend unreflektiert übernimmt. Von besonderer Bedeutung sind dabei der Antisemitismus, unter dem Schnitzler selbst zu leiden hatte, die Gewaltbereitschaft, das konfliktanfällige Verhältnis zwischen Offizieren und Zivilisten, die durchgehende Herabwürdigung von Frauen und das Missverhältnis zwischen einer überspitzten Empfindlichkeit in Ehrenfragen und einer großen Laxheit gegenüber allgemeinen moralischen Forderungen.

Dabei ist zu betonen, dass die militaristischen Kritiker Schnitzlers, die nach der Veröffentlichung der Novelle die Aberkennung seiner Offizierscharge bewirken, Gustl nicht deshalb als Zerrbild eines österreichischen Offiziers sehen, weil er antisemitisch eingestellt wäre, oder weil er sich wegen der Beleidigung durch den Bäckermeister umbringen wollte; sondern beleidigt fühlen sie sich, weil Gustl nicht antisemitisch genug ist (er verkennt nämlich doch bei den Mannheimers) und weil er sich, nachdem er vom Tod Habetswallners erfahren hat, nicht dennoch umbringt, wie es die strenge Auslegung des Ehrenkodex ihrer Meinung nach tatsächlich erfordert hätte.

Im publizistischen Umfeld der Novelle zeigt sich die tagespolitische Relevanz vor allem zweier Aspekte. So wird unter anderem in der Zeitung »Die Wage«, am 18. März 1901, eine Offiziersnot beklagt, das heißt ein akuter Personalmangel, der unter anderem auf die schlechte finanzielle Situation des Offiziersstandes zurückzuführen sei. Auch bei Gustl sieht man die Diskrepanz zwischen pseudo-aristokratischem Lebensstil (Spielschulden) und finanzieller Ausstattung (er ist auf die Unterstützung des reichen Onkels angewiesen), die sich insbesondere auf das Verhältnis zu Frauen auswirkt (er hat ein Verhältnis mit einer Frau, die von einem anderen Verehrer finanziell versorgt wird).

Das zweite: Anders als in Preußen blieben ziviler und Offiziersstand in der Doppelmonarchie strikt getrennt. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Offizieren und Zivilisten drohten, wenn Offiziere sich in ihrer Offiziersehre angegriffen fühlten. Solche Vorkommnisse gab es in den 1890er-Jahren vermehrt; und gerade für die Debatte um Schnitzlers Degradierung im Sommer 1901 spielte ein Vorfall in Bozen eine Rolle (vgl. Renner 81 f.,151-154), bei dem es zum gewaltsamen Zusammenstoß zwischen einer Privatgesellschaft und drei Offizieren kam.

In dem ehrenrätlichen Verfahren gegen Schnitzler wird zur Begründung des Urteils die unterlassene Reaktion des Autors auf die heftige Kritik in der »Reichswehr« vom 28. Dezember 1900 genannt – so als hätte Schnitzler den Verfasser des Artikels, den Offizier Gustav David, eigentlich zum Duell fordern müssen. Der Ehrbegriff kollidiert hier unmittelbar mit den Verhältnissen einer literarischen, kritischen Öffentlichkeit: Wie hätte ein Offizier literarisch tätig werden können, wenn er jeder Kritik an seinen Veröffentlichungen auf diese Weise begegnen müsste? Das Duellwesen, das sich keine zwei Jahrzehnte mehr halten sollte, war gerade um 1900 verstärkter Kritik ausgesetzt. Gerade die überzogenen Vorstellungen der militaristischen Kritiker Schnitzlers deuten auf die Krise.

In den zeitgeschichtlichen Kontext der Novelle gehören außerdem Fortschritte in der Psychologie. Die Frage, wie psychische Vorgänge ermittelt und dargestellt werden können, beschäftigt Wissenschaft und Literatur. Sigmund Freuds (1856–1939) »Traumdeutung« erschien im selben Jahr wie »Leutnant Gustl«:

    Die Psychoanalyse lag in dieser Zeit gewissermaßen »in der Luft«, wie Thomas Mann später einmal feststellte. Freud bediente sich nicht nur selbst in der Literatur [...], um sein Vokabular der Psychoanalyse anschaulicher und seine realen Fälle verständlicher zu machen, er selbst räumte einmal ein, seine Fallgeschichten seien wie »Novellen zu lesen«. [...] Oftmals war die Beziehung zwischen Psychoanalyse und literarischer Moderne durch starke Rivalitäten gekennzeichnet, insbesondere dann, wenn auch der Schriftsteller sich auf der Basis seines Medizin- oder Psychologiestudiums und seines Berufs mit der Psychoanalyse auseinander setzte, wie etwa Schnitzler, Döblin, Musil, Benn oder Richard Huelsenbeck. [...] [Schnitzler und Freud] waren durch dieselbe medizinische Schule gegangen und Schnitzler hatte sich wie Freud auf das Gebiet der Nervenkrankheiten spezialisiert, insbesondere auf Neurasthenie und Hysterie. Freud wiederum hatte, ähnlich wie der Schriftsteller, sein psychoanalytisches Wissen nicht allein im Studium und in der Arbeit mit Patienten erworben, sondern auch aufgrund von intensiver Selbstbeobachtung. So waren Konflikte darüber, wer zuerst welches Wissen geliefert hatte, fast unvermeidlich. (Deutsche Literaturgeschichte 361 f.)

Von der ersten Idee zu der Novelle, festgehalten in einer Entwurfsnotiz aus dem Jahr 1896, bis zum Erstdruck am 25. Dezember 1900 in der »Neuen Freien Presse« vergehen vier Jahre. Die Entwurfsnotiz lautet: 

    Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; – niemand erfährts. Der sie ihm gegeben, stirbt und er ist beruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre – sondern an der Angst litt, es könnte bekannt werden. – (HKA 13)

Am Anfang steht also die Idee zu einer Handlung – nicht die Idee zu der Form des inneren Monologs. Schnitzler thematisiert das selbst in seinen nachgelassenen »Materialien zu einer Studie über Kunst und Kritik«. Unter der Überschrift »Zur Physiologie des Schaffens« gibt er an, die Entstehung eines Kunstwerks könne von einem Einfall, einer Situation, einer Ansicht, einer Gestalt oder einer Empfindung ausgehen. Selten sei die Entstehung absolut rein.

    Zuweilen wird das sekundäre Moment so stark, daß es in der Ausführung zu überwiegen scheint:
    Ein Einfall war da, die Gestalt tritt hinzu, die dazu dient, den Einfall zu illustrieren, und der Einfall tritt im Laufe der Überlegung, eventuell erst im Laufe der Arbeit, hinter der Gestalt zurück. (Leutnant Gustl)
    (Aphorismen und Betrachtungen 381)

Auffällig ist an der Entwurfsnotiz ferner, dass ein Reflexionsprozess angedeutet wird, der in der Novelle keine Entsprechung hat. Gustl ›kommt nicht darauf‹, dass das Gefühl der verletzten Ehre nur an der Angst hing, der Bäckermeister könne von der Beleidigung berichten – er ›kommt‹ auf gar nichts, sondern ist nur erleichtert, nur voller neu erwachtem Lebensmut.

Auf dem Blatt der Entwurfsnotiz finden sich spätere Ergänzungen, die den Einfall etwas konkretisieren. Sie sind teilweise unleserlich, bilden aber wohl bereits Fragmente des auszuformulierenden Gedankenberichts. Der Bäckermeister trägt hier anscheinend noch den Namen Resch: 

    […] jetzt reden wir miteinand wie wenn nichts geschehn wär und .. Guten Abend, Herr Lieut .. […] Wer hilft mir – Was soll ich thun? . Ich will ins Kaffehaus .. […] Um Himmelsw wenn ers erzählt […] (HKA 13)

Eine Skizze auf acht Blättern, überschrieben mit dem Wort »Ehre«, entstand dann im Mai 1900. Mit einem Bruchteil der Textmenge der späteren Novelle wird bereits der gesamte Verlauf der Geschichte abgeschritten: Konzert, Garderobe, Spaziergang, Schlafen im Prater, Rückweg, Kaffeeehaus. Steffi heißt hier noch Poldi und der Kontrahent des Folgetages ist Advokat; Gustl hört ein Oratorium von Haydn. Die Beleidigung durch den Bäckermeister ist etwas verständlicher als in der späteren Fassung: 

    Ah Herr Lieutn – nur schön still … no ein Worterl u ich zerbrich ihnen den Zahnstocher u schmeiß ihn Ihnen vor d Füss oder schick ihn zum Regiment – Alsdann … Sie thun mir leid, ich will ihnen die Carriere nicht verderben, Sie sein ja doch nix als a dummer Bub! – Hab die Ehr, Herr Lieutnant … (HKA 19)

Hier also gehört die Beschimpfung als ›dummer Bub‹ in die beschwichtigende Rückzugsbewegung des Bäckermeisters, in der Fassung der Handschrift und dann des Drucks schließt sie die Drohung ab.

Von der auf den Juni 1900 datierten Handschrift fehlt vermutlich die erste Seite. Der Textumfang ist hier auf 240 Blätter beträchtlich erweitert. Dennoch handelt es sich noch nicht um eine Druckvorlage – zwischen der Handschrift und dem Druck bestehen immer noch erhebliche Unterschiede, die auf eine intensive Bearbeitungsphase deuten. Oben aufgeführt wurde bereits der Umstand, dass in der Handschrift der Kellner Rudolph Gustl auf das Fehlen seiner Uniformkappe aufmerksam macht. Diese Passage wurde nicht in die Druckfassung übernommen.

Von besonderer Bedeutung ist in der Handschrift die Handhabung der Auslassungspunkte: 

    Die Handschrift differenziert die Pausenlänge des Inneren Monologs in verschiedenen Quantitäten von einem bis zu zehn Punkten, die Interpunktion wird also »vielsagend« semantisiert. Der Erstdruck schränkt diese Variationsbreite auf zwei bis vier »Gedankenpunkte« ein, welche die Erstausgabe schließlich zu den stereotypen drei Auslassungspunkten normalisiert, womit sie die ursprünglichen Ausdrucksqualitäten der Zeichensetzung verliert. Die auf die Assoziationsintervalle folgenden Sätze lässt die Handschrift – und mit ihr der Erstdruck – häufig mit Kleinbuchstaben beginnen, was die Erstausgabe in der Regel zu Großschreibung korrigiert. Dadurch entsteht der Eindruck eines stabileren Satzrhythmus, was aber den ursprünglichen Duktus eines kontinuierlichen »Gedankenstroms« beeinträchtigt. (HKA 6)

Erst für die Druckfassung wird das Datum der Handlung endgültig festgelegt. Damit geht eine Anspielung auf das am 4. April 1900 im Wiener Musikverein aufgeführte Oratorium »Paulus« (1836) von Felix Mendelssohn Bartholdy einher: Die Musik, die Gustl hört, wird also etwas ernster.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.