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Leutnant Gustl

[Im Konzert] S. 337-342

Zusammenfassung

Am Abend des vierten April, um viertel vor zehn Uhr, sitzt Leutnant Gustl im Konzerthaus des Wiener Musikvereins (Bösendorferstraße 12, 1. Wiener Bezirk) und hört ohne großes Vergnügen ein Oratorium, in dem Edyth Walker Alt und Margarethe Michalek Sopran singen. Er hat die Karte von seinem Freund Kopetzky bekommen, dessen Schwester im Chor des Singvereins an der Aufführung mitwirkt. Gustl, der sich auf die Musik nicht konzentrieren kann, denkt an vielerlei und sucht mit den Augen im Publikum und bei den Sängerinnen nach hübschen Frauen.

Er hätte die Karte lieber Benedek geschenkt, der selbst Violine spielt, hätte dann aber Kopetzky beleidigen müssen, den er jetzt im Kaffeehaus wähnt und beneidet. Außerdem gibt er einem gewissen reichen Ballert die Schuld für den Konzertbesuch, an den er am Vortag beim Kartenspiel im Kaffeehaus hundertsechzig Gulden verloren hat. So hat er sich vorgenommen, bis zum Monatsende keine Karte mehr anzurühren und bereits seiner Mutter wegen des Geldes geschrieben. Diese, meint er, solle deswegen den reichen Onkel fragen, von dem er sich eine verlässliche, monatliche, und nicht nur eine gelegentliche Unterstützung erhofft. Im Sommer sieht er sich zu einem erneuten, vierzehntägigen Besuch des Onkels auf dem Land verpflichtet, wo ihn Langeweile und, möglicherweise, wieder eine Affäre mit einer gewissen Etelka erwarten, die kein Wort Deutsch spricht.

Aber auch die Eltern werde er eine Woche wieder besuchen müssen. Die Mutter hatte Weihnachten wegen einer erfahrenen Kränkung einen schlechten Eindruck gemacht. Der Vater ist in Pension gegangen. In Gedanken gibt er sich zuversichtlich, dass die achtundzwanzigjährige Klara, wohl seine Schwester, noch einen Mann finden werde.

Gustl denkt an verschiedene Affären zurück und hätte auch mit der siebenunddreißigjährigen Maretti (wohl Helene Odilon, 1865–1939), die die Titelrolle in der »Madame Sans-Gêne« spielte, gerne eine begonnen. Zurzeit ist aber Steffi seine Geliebte, von der er einen Brief in der Brieftasche hat und gelesen hätte, wenn er nicht den Zorn seines musikbegeisterten Nachbarn hätte fürchten müssen. Sie hat ihm für den Abend abgesagt, weil sie mit ihm, also wohl ihrem Verehrer, nachtmahlen gehen muss. Gustl erinnert sich an eine Verabredung mit Steffi, ihrem Verehrer und Kopetzky vor einer Woche, wo er in der Gartenbaugesellschaft, einem beliebten Veranstaltungsort am Parkring 12, 1. Wiener Bezirk, dem Paar mit seinem Freund gegenübergesessen und ihr verabredete Augenzeichen gemacht hatte. Er fürchtet, dass ihr Verehrer die Sache entdecken und sie sich ganz an ihn hängen könnte, wegen der Kosten, die dann auf ihn zukämen und denkt dabei an einen Bekannten mit Namen Fließ und sein Verhältnis mit einer Frau Winterfeld. Auch mit dem Gedanken, zu heiraten, spielt er. Steffis Verehrer arbeitet in einer Bank und Gustl – mit einer antisemitischen Grundeinstellung – verdächtigt ihn, Jude zu sein.

Am Nachmittag des Folgetages erwartet ihn ein Duell mit einem gewissen Doktor, der in einer Gesellschaft bei den Mannheimers von ihm gefordert hatte, zuzugeben, dass nicht alle seine Kameraden ausschließlich deshalb zum Militär gegangen seien, das Vaterland zu verteidigen. Gustl sah sich dadurch herausgefordert und wehrte den Versuch ab, die Sache gütlich beizulegen. Er verspricht sich von dem Duell Vorteile, denn da er durchaus die Möglichkeit gehabt hatte, die Konfrontation nicht bis zur Verabredung zum Duell zuzuspitzen, werde die Bereitschaft, sich zu schlagen, ihm hoch angerechnet werden.

Gustl erinnert sich patriotischer Anwandlungen bei Manövern im vorigen Jahr und bei einer Musterung durch den Kaiser. Er hat sich schon einmal mit einem Oberstleutnant Bisanz geschlagen, der ein ernsthafter Gegner gewesen war. Der Doktor hingegen, den er morgen zum Gefecht erwartet, müsse als Anfänger bezeichnet werden – wiewohl gerade darin, wie Fechtmeister Doschintzky ihm einmal versicherte, die Gefahr liegen könnte. Gustl nimmt sich vor, den Doktor kampfunfähig zu machen und vertraut auf sein ruhiges Blut.

Auf der Bühne werden Arien gesungen, immer wieder gibt es Applaus und Gustl erkennt, zeitweilig gerührt, richtig den Schlusschor.

Analyse

Vor dem Ereignis, das im Zentrum der Novelle stehen wird – der Beleidigung Gustls durch den Bäckermeister im Foyer –, gibt es einen Vorlauf. Die Gedanken der Hauptfigur werden noch nicht durch den Vorfall und den daraus resultierenden Handlungsdruck dominiert, sondern sie können sich frei ergehen. Der Autor schafft sich dadurch die Gelegenheit, wichtige Umstände im Leben des Protagonisten flüchtig zu berühren. Ergebnis ist ein auf engem Raum überraschend dichtes, eng gewobenes Porträt.

Es ist das Porträt eines gewissenlosen, in den Anschauungen und Gewohnheiten seines gesellschaftlichen Milieus vollständig aufgehenden, oberflächlichen jungen Mannes. Berührt werden die Familien- und Vermögensverhältnisse, die Planung des Sommerurlaubs, zurückliegende und aktuelle Liebesaffären, Anekdotisches aus der Bekanntschaft, die patriotische und antisemitische Grundhaltung und die Gustl gerade beschäftigenden Ereignissequenzen.

Zwei Stränge wären für sich bereits geeignet, den Stoff für die Handlung der Novelle zu liefern: Das ist die Affäre mit der verheirateten Steffi, die von ihrem Verehrer entdeckt werden oder mit den anderen Flirts Gustls konfligieren könnte; und das ist das für den folgenden Nachmittag anberaumte Duell mit dem sogenannten Doktor.

Unmittelbar für den Abend ergibt sich die Frage, was Gustl nach Ende des Konzerts unternehmen wird: Wird er nur ein bisschen über die Ringstraße spazieren und früh ins Bett gehen, um morgen ausgeschlafen zu sein (vgl. 340)? Oder wird er in der Hoffnung, Steffi dort zu treffen, in die Gartenbaugesellschaft gehen (vgl. 342)? Überkommt ihn vielleicht doch wegen des bevorstehenden Duells noch Todesangst?

Eine solche Wendung hatte Guy de Maupassant in der 1884 erschienen Novelle »Un lâche« / »Ein Feigling«, gestaltet: Der Held dort – ein vicomte Gontran-Joseph de Signoles – ist ganz wie Gustl angelegt:

    Orphelin et maître d’une fortune suffisante, il faisait figure, comme on dit. Il avait de la tournure et de l’allure, assez de parole pour faire croire à de l’esprit, une certaine grâce naturelle, un air de noblesse et de fierté, la moustache brave et l’oeil doux, ce qui plaît aux femmes.
    Il était demandé dans les salons, recherché par les valseuses, et il inspirait aux hommes cette inimitié souriante qu’on a pour les gens de figure énergique. On lui avait soupçonné quelques amours capables de donner fort bonne opinion d’un garçon. Il vivait heureux, tranquille, dans le bien-être moral le plus complet. On savait qu’il tirait bien l’épée et mieux encore le pistolet. (Maupassant)
    Ohne Eltern und im Besitz eines genügenden Vermögens, spielte er eine Rolle, wie man zu sagen pflegt.
    Er hatte gute Manieren, ein angenehmes Äußere und wußte sich leicht auszudrücken, so daß man glaubte, er wäre ein gescheiter Kerl; er besaß eine gewisse natürliche Gracie und den Schein von Vornehmheit – Stolz, einen schönen Schnurrbart und ein schmachtendes Auge, Dinge, die den Weibern gefallen.
    In den Salons war er gern gesehen, ein gesuchter Tänzer, und den Männern flößte er jene Scheu ein, die man Leuten gegenüber empfindet mit einem besonders energischen Aussehen.
    Ein paar Liebschaften wurden ihm nachgesagt, die ihm einen gewissen Junggesellen-Ruf einbrachten: er lebte fröhlich, ruhig dahin im völligen Gleichgewicht. Man wußte, daß er ein guter Fechter war und noch besser Pistole schoß. (Maupassant, Ein Feigling)

Signoles fordert aus einem nichtigen Anlass zum Duell, ihn überfällt in der Vorbereitung Todesangst – und die Angst, sich wegen seiner Angst bei dem Duell lächerlich zu machen. Lieber erschießt er sich.

Für die Neubearbeitung dieses Stoffes bringt »Leutnant Gustl« auf den ersten paar Seiten alle Voraussetzungen zusammen. Gegeben ist, wie gesagt, der gleiche Charaktertyp und gegeben ist die Verabredung zum Duell aus nichtigem Anlass. Gustl selbst stellt heraus, dass die Unterstellung des Doktors, nicht alle Kameraden Gustls seien zum Militär gegangen, um das Vaterland zu verteidigen – dass diese Unterstellung nicht zwingend zum Duell hätte führen müssen: »Ich kenn‘ manche, die den Burschen hätten durchschlüpfen lassen.« (340) Gerade deshalb verspricht er sich von dem Duell einen Zuwachs an Reputation und orientiert sich dabei an der Einschätzung eines »Oberst« (340). Die Gefahr schätzt er gering ein, nicht ohne aber von dem Fechtmeister Doschintzky vor der Gefahr gewarnt zu sein, die gerade in dieser Geringschätzung verborgen liegen mag. Er sieht bei sich in der Frage, welchen Ausgang das Duell haben soll, genügend Handlungsspielraum, um den Verletzungsgrad des Kontrahenten vorderhand festzulegen: »jawohl, du sollst kampfunfähig werden …« (341) – also nicht sterben, aber auch nicht nur entwaffnet werden.

Maupassant voraus hätte Schnitzler die innovative Anlage seiner Novelle als konsequentes Gedankenprotokoll. Es versteht sich, dass sich die Handlung dabei nicht über einen längeren Zeitraum erstrecken darf – hierfür ist schon gesorgt, denn das Duell soll am folgenden Nachmittag stattfinden.

Nun – es wird in »Leutnant Gustl« anders kommen, doch klar ist, dass die so irritierend glatte und bruchlose Persönlichkeit des Leutnants irgendwo wird herausgefordert werden müssen.

Zu deren Verständnis ist ein Zug noch von Bedeutung, der leicht übersehen werden kann. Gustls Mittelmäßigkeit zeigt sich in seiner Unfähigkeit, den sozial antrainierten Zynismus, der ihn durch und durch bestimmt, vollständig zu reflektieren. Aufgehend in einer größeren Masse ist er doch zu so etwas wie Ergriffenheit noch fähig, und er identifiziert sich mit diesem Gefühl, wo es gesellschaftlich passt. Gerade hierauf zielte die Bemerkung des Doktors. Man sollte meinen, Gustl sei abgebrüht genug, die Vielfalt der Motive für eine Offizierslaufbahn zuzugestehen, die der Doktor unterstellt. Stattdessen beruft er sich in Gedanken auf das patriotische Gefühl, das ihn im letzten Jahr bei einem Manöver und bei einer kaiserlichen Musterung überkam – selbst hier sich vergewissernd, dass es anderen auch so erging: »Und der Mirovic hat mit g’sagt, es ist ihm ebenso ergangen.« (341) Ähnlich verhält es sich mit seinem Kunstgenuss: Er langweilt sich durch das Oratorium, aber bei dem Schlusschor, der freilich das am ehesten Mitreißende des Musikstückes ist, denkt er sich: »Wunderschön, da kann man gar nichts sagen. Wunderschön!« (341)

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.