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Leutnant Gustl

[Auf der Parkbank] S. 348-356

Zusammenfassung

Gustl setzt seinen Weg fort. Er geht von der Aspernbrücke aus in Richtung Prater.

Seine Gedanken schweifen jetzt immer wieder ab. Er denkt daran zurück, wie er mit seiner Kompanie in Kagran, einer Gemeinde im Norden Wiens, eingerückt ist. Kopetzky, Ladinser und ein Einjährig-Freiwilliger waren dabei. Müde vom Marsch hatte er sich am Nachmittag zwei Stunden schlafen gelegt und war schon am Abend beim Ronacher, einem Vergnügungslokal in der Seilerstätte 9, 1. Wiener Bezirk, gewesen.

Er ärgert sich über die Privilegien der Einjährig-Freiwilligen, bevor ihm einfällt, dass er jetzt, ehrlos geworden, noch unter jedem Gemeinen von der Verpflegsbranche steht. Er ermahnt sich, die Notwendigkeit des Suizids in aller Konsequenz anzunehmen und fantasiert über den Aufwand, der bei seinem Begräbnis gemacht werden wird.

Ihm fällt ein, dass er vorigen Sommer vor dem Kaffeehaus nach der Armee-Steeple-Chase (einem Distanzhindernisrennen) neben einem Herrn von Engel gesessen habe, dessen linkes Auge verbunden gewesen war.

Ihm begegnen zwei Artilleristen, von denen er meint, dass sie vermuteten, er laufe einer Frau hinterher. Tatsächlich möchte er die Frau sich ansehen, findet sie aber abscheulich (vielleicht eine Prostituierte).

Aus Mangel an Frauen hatte er sich, als er mit seiner Kompanie in Przemysl, Galizien, stationiert war, mit einer ähnlichen Frau einmal eingelassen. Ein gewisser Bokorny hatte nicht das Glück, von dort wieder nach Wien versetzt zu werden.

Er erschrickt über die Belanglosigkeit seiner Gedanken und ermuntert sich zu einer dem bevorstehenden Selbstmord angemesseneren Stimmung. Der plötzliche Tod sei einem langen Siechtum immerhin vorzuziehen, wie es seine Cousine zwei Jahre hatte erleiden müssen. Wichtig sei es, gut zu zielen, sonst könnte es ihm so ergehen wie einem Kadett-Stellvertreter im vorigen Jahr, der seine Geliebte aus Eifersucht zwar tot, aber sich nur blind geschossen habe. Gustl hingegen sei von dieser Leidenschaft völlig frei. Er denkt in diesem Sinne an Steffi und ihre heutige Verabredung, an ihr Badezimmer und an eine Begegnung mit ihr, bei der sie einen grünseidenen Schlafrock getragen habe. Er vergegenwärtigt sich ihre wahrscheinliche Reaktion auf seinen Tod und wehrt den Gedanken an seine Eltern ab.

Er erreicht den Prater und gibt sich damit zufrieden, dort zu spazieren. Es ist kalt und er denkt an das einzige Mal zurück, an dem er Angst gehabt hatte: als vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge im Wald, vor etwa neun Jahren. Hinter ihm erkennt er das zweite Kaffeehaus (eines von drei an der Prater Hauptallee errichteten Kaffeehäusern), in dem er letzten Sommer mit Kopetzky und Rüttner einmal gewesen ist, als die Regimentskapelle dort spielte. Er setzt sich auf eine Bank und nimmt sich vor, die Sache jetzt in Ruhe noch einmal zu überlegen. Er nimmt die Uniformkappe vom Kopf.

Er beschließt, sich morgen um sieben Uhr in seinem Zimmer zu erschießen. Wieder spekuliert er darüber, wie sein Tod aufgenommen werden wird: Wann man ihn finden werde, denn Max Lippay habe man auch erst am Nachmittag gefunden, wiewohl er sich schon in der Frühe erschossen hatte; und ob Kopetzky bis acht Uhr, wo er mit der Schule, also der militärischen Unterweisung der Rekruten, beginne, wohl davon erfahren haben werde. Den Doktor, seinen Kontrahenten im Duell, werde sein Tod wohl freuen.

Der Gedanke an den Doktor bringt ihm Frau Mannheimer, in deren Gesellschaft es zu der Beleidigung des Doktors gekommen war, wieder ins Gedächtnis und er bedauert, mit ihr nichts angefangen zu haben. Um sie hätte er sich sehr bemühen müssen, dann aber hätte er einmal eine andere Geliebte gehabt als solche wie die Steffi – eine anständige Frau. Auch die Frau seines Hauptmanns in Przemysl, die noch am ehesten als anständig gelten könnte, sei es am Ende nicht gewesen, denn gewiss habe sie auch mit Libetzky und Wermutek etwas gehabt.

Seine erste erotische Erfahrung hatte er bei seinem ersten Urlaub vom Regiment zu Hause in Graz mit einer Böhmin, die wohl doppelt so alt wie er gewesen war. Als er früh morgens nach Hause kam, war das Wissen um sein Abenteuer in den Blicken des Vaters und der damals verlobten Schwester Klara abzulesen gewesen.

Er denkt daran, dass die Schwester ihn nie mehr wiedersehen wird, und an ihre letzte Begegnung am Neujahrstag, am Bahnhof. Er fantasiert von einer letzten Fahrt nach Hause, einem Besuch für einen Tag: Er könnte den Sieben-Uhr-Zug nehmen und wäre um ein Uhr in Graz. Klara aber, so wendet er bei sich ein, würde bestimmt etwas merken. Sie hat ihm neulich sehr lieb geschrieben, und er ist ihr noch die Antwort schuldig.

Er denkt daran, wie anders sein Leben verlaufen wäre, wenn er, auf ihre Ratschläge hörend, in Graz geblieben wäre, Ökonomie studiert und beim Onkel gearbeitet hätte. Vielleicht hätte er eine gewisse Anna geheiratet, die sich immer schon für ihn interessiert hätte, auch jetzt noch, da sie verheiratet ist und zwei Kinder hat. Er sieht voraus, dass man zu Hause glauben wird, er habe sich wegen Schulden erschossen. Dabei fällt ihm ein, dass er vor dem Selbstmord sich noch um die Spielschulden bei Ballert kümmern muss.

Nach Amerika zu gehen, wäre eine weitere Möglichkeit. Aus der Zeitung hat er von einem Grafen Runge gehört, der wegen einer schmutzigen Geschichte auswandern musste, und der nun in Amerika ein Hotel besitze. Nach ein paar Jahren könnte er dann auf das Gut gehen. Der Familie wäre das sicher lieber als sein Selbstmord, und bis auf Kopetzky sind ihm alle anderen egal.

Die Szene in der Garderobe kommt ihm jetzt unwirklich vor, als sei eine lange Zeit seither vergangen. Er bereut sein aggressives und ungeduldiges Verhalten an der Garderobe. Daran seien viele Faktoren schuld: der Spielverlust gestern Abend, die häufigen Absagen Steffis, Schlafmangel, der Dienst in der Kaserne, das morgige Duell.

Eine Kutsche mit Gummireifen, in der er aufs Geratewohl Ballert mit seiner Berta vermutet, bringt ihm abermals die Zeit in Przemysl ins Gedächtnis, denn auch Seine Hoheit war mit einer hübschen Kutsche immer in die Stadt zu seiner Rosenberg gefahren. Die Zeit dort war schön, die Gegend aber eigentlich trostlos und im Sommer zu heiß. An einem Nachmittag haben drei Kameraden einen Sonnenstich bekommen, und nachmittags haben sie sich immer nackt aufs Bett gelegt. Er wäre gern zur Kavallerie gegangen, wie Wiesner, der auch in Przemysl gewesen ist, aber sein Vater hatte das Geld dazu nicht aufwenden wollen.

Er ermahnt sich, da er nun extra in den Prater gegangen wäre, um nachzudenken, jetzt in Ruhe alles zu überlegen. Er verwirft den Gedanken von der Auswanderung und gibt sich überzeugt, seine nächsten Angehörigen würden die Sache schon verkraften, so wie seine Mutter auch den Tod ihres Bruders verschmerzt habe. Wieder spekuliert er über die Modalitäten seines Begräbnisses. Nur um die Spielschulden müsse er sich noch kümmern.

Er kenne übrigens alles vom Leben. Nur einen Krieg hätte er gerne mitgemacht. Die Weiber kenne er, da komme es auf das einzelne Weib nicht an. Die schönsten Operetten kenne er, und die Oper Lohengrin habe er zwölfmal gehört.

Er nimmt sich vor, nun langsam nach Hause zu gehen, schläft aber auf der Bank ein.

Analyse

Gustls zielloser Spaziergang führt in den Prater. Die Möglichkeit zum unbeobachteten Nachdenken, die sich ihm dort bietet, nimmt er an. Auf einer Parkbank schläft er ein. Der Absatz, der die Bewusstlosigkeit des Schlafes markiert, teilt die Novelle in zwei Teile, die etwa im Verhältnis von zwei zu einem Drittel stehen.

Der erste Teil beschreibt hinsichtlich der Wahrnehmungsaktivitäten eine deutliche Kurve. Der Langeweile im Konzert folgt die große Anspannung des allgemeinen Gedränges und der Garderobenszene. Von da an entfernt sich Gustl von dem gesellschaftlichen Treiben immer weiter. Die Überlegungen können sich am Ende ungestört entfalten.

Dabei wird ein Hang zur Zerstreuung kenntlich, zum Abwandern des Bewusstseins auf gewohnten Bahnen. Immer wieder muss Gustl sich ermahnen, den erlittenen Ehrverlust und den bevorstehenden Selbstmord nicht zu vergessen. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Suizids verdankt sich konzentriertem Nachdenken; sobald er sich innerlich etwas entspannt, verliert sie die beherrschende Stellung, die ihr eigentlich zukommen müsste.

Immerhin werden auch die übrigen Lebensbereiche nun langsam aus der Perspektive des drohenden Todes gesehen. Bilanzierende Überlegungen mischen sich ein. Die Entscheidung, nach Wien und zum Militär zu gehen, wird gegen die Möglichkeit gehalten, die sich ihm in Graz bei einem Wirtschaftsstudium und unter der beruflichen Obhut des reichen Onkels geboten hätte. Er wäre lieber zur Kavallerie gegangen, doch die Vermögensverhältnisse des Vaters reichten dafür nicht hin. Zu einem besseren (geschliffeneren, respektheischenden) Mensch hätte ihn eine Geliebte wie Frau Mannheimer machen können, doch sie zu erobern hätte er sich mehr anstrengen müssen. Stattdessen sieht er auf alle seine Frauengeschichten mit einer gewissen Verachtung.

Die weiteren Handlungsmöglichkeiten, die erwogen werden – die Auswanderung, der kurze Besuch in Graz –, sind kaum realistisch, die Entscheidung zum Suizid fechten sie nicht an.

Interessant ist auch die langsam einsetzende, differenziertere Bewertung des Vorfalls an der Garderobe. Gustl erkennt durchaus, dass er durch seine aggressive Drängelei Schuld an der Sache trägt, und macht dafür seine allgemeinen Lebensumstände verantwortlich. So oder so hätte er bald einer Auszeit bedurft.

Immer wieder kehrt er in Gedanken zu der Dienstzeit in Przemysl zurück. Auch dort erinnert er sich freilich an keine irgendwie sinnerfüllteren Ereignisse. Allein die Abwechslung, der Unterschied zum Wiener Leben, macht die Episode erinnerungswürdig. Im Grunde ist es aber auch dort dasselbe: erotische Abenteuer, Verdruss und Vergnügen, witzige Anekdoten – mehr nicht.

Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer schleichenden Festigung des Selbstmordentschlusses. Nichts ist Gustl eingefallen, das zu seiner Revision führen könnte. Auch die praktischen Fragen sind geklärt: morgen, um sieben Uhr, in seinem Zimmer. Kümmern will er sich nur noch um die Spielschulden bei Ballert.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.