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Leutnant Gustl

[Die Beleidigung] S. 342-345

Zusammenfassung

Das Konzert ist vorbei und das Publikum begibt sich zu der Garderobe und zu den Ausgängen. Der ungeduldige Gustl mustert im Strom der Menge die Frauen und spekuliert über die Echtheit des Schmucks und die jüdische Abstammung einer Dame, die er anhand ihrer Nase zu erkennen glaubt. Er erkennt einen Offizier des k. u. k. galizischen Infanterie-Regiments Nr. 95 und überdenkt den weiteren Abend: Er könnte bei Leidinger, einem Restaurant in der Kärntnerstraße 61, im 1. Wiener Bezirk, zur Nacht essen oder auf gut Glück zur Gartenbaugesellschaft gehen, wo Steffi vielleicht mit ihrem Verehrer hingegangen ist. Eine andere Möglichkeit tut sich in Gestalt eines hübschen Mädels auf, das ihn anlacht und dem er nachgehen könnte – dann wird sie aber von einem Herrn abgeholt.

Bei der Garderobe herrscht großes Gedränge und ein korpulenter Herr, wie sich herausstellt ein Bäckermeister, der Stammgast in dem Kaffeehaus ist, das auch Gustl frequentiert, verstellt nach Gustls Auffassung die ganze Theke. Gustl drängt, der Bäckermeister mahnt zur Geduld. Gustl stößt ihn, was der Bäckermeister sich verbittet, worauf Gustl ihn auffordert, sein Maul zu halten. Der Bäckermeister dreht sich zu ihm um und jetzt erst erkennt Gustl ihn. Er greift nach dem Säbel Gustls und droht ihm, ins Ohr flüsternd, den Säbel zu zerbrechen und die Stücke an sein Regimentskommando zu schicken. Er bezeichnet ihn als dummen Bub, und wirklich zieht er den Säbel ein Stück weit aus der Scheide. Dann aber versichert er Gustl, er wolle ihm seine Karriere nicht verderben, es habe niemand etwas gehört, und jetzt sollten sie freundlich zueinander tun, damit niemand glaube, sie hätten sich gestritten. Gustl kann sich, körperlich unterlegen, nicht wehren. In großer Verwirrung und Bestürzung verlässt er – gleichzeitig fürchtend, dass man ihm etwas anmerkt – das Konzerthaus und bedenkt rasend die Handlungsmöglichkeiten, die er gehabt habe. Was er eigentlich hätte tun müssen – die Beleidigung auf der Stelle durch einen tätlichen Angriff rächen –, war ihm wegen des großen Gedränges und wegen der körperlichen Überlegenheit seines Gegenübers verwehrt gewesen.

Analyse

Das Oratorium hatte Gustls Wahrnehmung kaum beschäftigt und er hatte Gelegenheit zum Nachdenken. So konnten größere thematische Blöcke mit erzählerischer oder argumentativer Bindung entstehen, zum Beispiel über die Fragen: Wieso bin ich eigentlich hier? Was soll ich gleich machen? Wie ist es nochmal zum Duell gekommen? Sobald das Konzert aus ist, ändert sich das Verhältnis von Wahrnehmung und wahrnehmungsunabhängiger Reflexion. Wird, wenn die Sinne damit beschäftigt sind, eine große Menge von Personen nach Bekanntheit, Attraktivität, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und akutem Handlungsbedarf (Drängeln) zu sortieren, überhaupt ein Gedanke gefasst, der sich sprachlich und schriftlich wiedergeben ließe? Wenn dem nicht so wäre, sollte der Text dann einfach aussetzen?

Man wird am besten tun, nicht zu hohe Ansprüche an den Realismus der Novelle zu stellen. Es handelt sich, so oder so, um die sprachliche (schriftliche) Simulation eines Bewusstseinsstroms, die umso besser gelingen wird, je selbstverständlicher sie um die mediale Differenz zwischen Nachahmendem und Nachgeahmten weiß. Sprachlich simuliert wird also auch die rege Wahrnehmungsaktivität Gustls auf dem Weg aus dem Konzertsaal. Dabei spielen Deiktika (Zeigewörter) eine besondere Rolle: »die da«, »von drüben«, »da«, »jetzt«, »dort« (alles 342). Deiktische Funktion haben außerdem unverbunden dastehende Nominalphrasen wie: »Elegante Person«, »O, die Nase!«, »Ah, ein älterer Herr!«, »Oh, ein Major von Fünfundneunzig«. Plausibel ist die Formulierung von Sätzen in Gedanken, die in dem Gedränge geäußert werden könnten, aber doch ungesagt bleiben, oder nur gestischen Ausdruck finden: »O ja, mein Fräulein, ich möchte‘ schon!«, oder: »Habe die Ehre, habe die Ehre!« Besonders wichtig ist neben anderen Interjektionen die Interjektion »so«, die den Abschluss eines Vorgangs konstatiert und Offenheit für das Weitere signalisiert: »So, jetzt die Treppen hinunter«, »So, jetzt heißt’s noch zur Garderobe«, »So!«. Mit ihrer Hilfe kann der Autor die selbstverständlichen Vorgänge des Theater-Verlassens kenntlich machen, ohne Gustl in unplausibler Weise darüber nachdenken lassen zu müssen, denn natürlich denkt er nicht: »Nun werde ich die breite Marmortreppe des Wiener Musikvereins hinuntergehen.«

Nachvollziehbar ist auch, dass bei aller sozialen Aktivität, die auf einmal gefordert ist, bei dem zähen Fortkommen genug Lücken entstehen, die die Fortführung auch situationsunabhängiger Gedankenstränge erlauben. So führt Gustl die nun immer drängender werdende Frage, was er gleich tun solle, zu einem kurzen Nachdenken über Steffis gebundene Existenz.

Die Wiedergabe wörtlicher Rede ist in dem gegebenen Setting nicht unproblematisch. Decken sich die Gedanken Gustls, wenn er spricht, ganz einfach mit dem, was er sagt? Dann könnte auf eine Markierung mit Anführungszeichen verzichtet werden. Sollte von den Äußerungen anderer Personen nur das wiedergegeben werden, was er gleichsam gedanklich mitspricht? Aber wann wäre das der Fall? Ohne die Reden des Bäckermeisters wäre freilich die ganze Novelle unverständlich – oder man müsste sich mit einem bloßen: »Was beleidigt der mich?« begnügen und den Inhalt seiner Reden ungefähr rekonstruieren.

Der einfache Trick, mit dem es Schnitzler gelingt, den Dialog als Dialog (und nicht nur das Echo im Bewusstsein Gustls) wiederzugeben, und doch die Geschlossenheit der Form des inneren Monologs zu wahren, besteht in dem Weglassen der Inquit-Formeln. Zugleich nutzt er die typographischen Mittel der Anführungszeichen und der Absatzmarkierung, um die wörtliche Rede aus dem Gedankenstrom auszusondern und Sprecherwechsel kenntlich zu machen. Man gewinnt den Eindruck einer gewissen Eigengesetzlichkeit der Interaktion. Zu Beginn feuert Gustl sich gedanklich zur verbalen Aggression an (»Dem muß ich doch antworten …«, »Was sagt er da? Sagt er das zu mir? Das ist doch stark! Das darf ich mir nicht gefallen lassen!«), dann aber sieht er selbst, dass er zu weit gegangen ist: »Das hätt‘ ich nicht sagen sollen, ich war zu grob … Na, jetzt ist’s schon g’scheh’n!« Bei den längeren Passagen, wenn der Bäckermeister die Hand schon am Säbel Gustls hat und Gustl sich die Bedeutung des Vorgangs klarzumachen sucht, ist wohl von einer weitgehenden Simultanität der Reden Habetswallners und der Gedanken Gustls auszugehen (Gustl unterbricht seine eigenen Gedanken, um besser zuzuhören: »Er red’t ja zu mir! Was red’t er denn?«).

Auf dem Weg von der Garderobe zum Ausgang hat sich das Verhältnis umgekehrt, das noch auf dem Weg vom Konzertsaal zur Garderobe geherrscht hatte. Dort war die Außenwahrnehmung dominant gewesen und hatte nur gelegentlich die Formulierung situationsunabhängiger Gedanken zugelassen. Jetzt beherrscht der Vorfall mit dem Bäckermeister Gustls Bewusstsein, und nur das Nötigste an Außenwahrnehmung dringt noch durch: »Warum schaut mich denn der Herr dort an der Säule so an? – hat er am End‘ was gehört?«, »Wo ist denn mein Mantel? … Ich hab‘ ihn ja schon angezogen … Ich hab’s gar nicht gemerkt …« (344).

Die Ehrverletzung, die der Bäckermeister ihm (auf Gustls Beleidigung reagierend) zugefügt hat, kann Gustl nicht mehr beseitigen. Die Ehrennotwehr hätte es ihm erlaubt, sogleich tätlich gegen ihn vorzugehen. Jetzt ist diese Gelegenheit dahin. Zum Duell kann er ihn, weil der Bäckermeister Zivilist ist, nicht fordern. Die einzige Möglichkeit, seine Ehre wiederherzustellen, ist der Suizid.

Die abstrakten Ehrvorstellungen treten vor der Konzerthausgarderobe in den Kontakt mit elementaren, körperlichen Gegebenheiten. Der Bäckermeister ist um ein Vielfaches stärker als Gustl und nutzt diese Überlegenheit aus. Er hält seinen Säbel fest, den er als Waffe benutzen müsste. Wenn Gustl versucht hätte, ihn mit der anderen Hand zu verletzen, »da hätt‘ er ja meinen Säbel herausgezogen und zerbrochen, und aus wär’s gewesen – alles wär’s aus gewesen! Und nachher, wie er fortgegangen ist, war’s zu spät… Ich hab‘ ihm doch nicht den Säbel von hinten in den Leib rennen können.« (344 f.)

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.