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Leutnant Gustl

Sprache und Stil

»Leutnant Gustl« gilt als der erste Text der deutschen Literatur, der konsequent nur aus einem Gedankenbericht besteht. Anders als bei der wörtlichen Rede, wo tatsächlich – die schriftsprachlichen Vereinheitlichungen abgerechnet – ein in der Rede ergehender Wortlaut in den Text hineinkopiert werden kann, weil Text und Rede beide das sprachliche Medium benutzen, ist eine einfache Übertragung von Gedanken in die Schriftform unmöglich. Das Bewusstsein prozessiert auch sprachliche Elemente, und auch gelegentlich ganze Sätze; ein großer Teil der Bewusstseinsinhalte wird aber nichtsprachlicher Natur sein, zu fassen allenfalls mit dem Begriff der Vorstellung.

Diese mediale Differenz zwischen Text und Bewusstsein ist aber für eine literarische Darstellung eher als Chance denn als Mangel zu begreifen. Schnitzler verzichtet darauf, eine allzuweit gehende syntaktische Desintegration zur deutlicheren Markierung seines innovativen Projekts zu nutzen. Eine Möglichkeit, die auch realisiert werden wird, besteht darin, die Vagheit der Vorstellungsinhalte dem Leser durch eine verworrene, unzusammenhängende Diktion mitzuteilen. Diesen Weg geht Schnitzler nicht. Die Dialektfärbung, die vor allem durch die häufigen Apostrophe markiert wird, und die häufigen Auslassungspunkte könnten genauso gut zur Markierung von Mündlichkeit gebraucht werden – sie sind, zumal in der auf drei Punkte vereinheitlichten Form im Druck – kaum der Rede wert. Nahezu alle im »Leutnant Gustl« gebildeten Sätze sind vollständig und korrekt. Dadurch erhält er sich die stilistischen Ausdrucksmöglichkeiten des gebräuchlichen, gesprochenen und geschriebenen Deutsch, und dies ist für das Anliegen des »Leutnant Gustl« von ungemeinem Wert. Schnitzler geht es nicht darum, überhaupt die Arbeitsweise des Bewusstseins eines Menschen, also irgendeines Menschen das erste Mal konsequent darzustellen, sondern darum, den Habitus, die Einstellungen, die inneren Regungen, Rechtfertigungen und Zweifel eines bestimmten Menschen unverstellt darstellen zu können. Ironischerweise zeichnet sich dieser Mensch gerade durch den Mangel eines weiter entwickelten Innenlebens aus. Nachzubilden war also nicht nur der Gedankenstrom als solcher, sondern der Soziolekt des Vertreters einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe.

Das Bewusstsein ist der Ort, an dem die Wahrnehmungsleistungen der einzelnen Sinnesorgane synthetisiert und externalisiert werden. Gerade diese Arbeit aber ist sprachlich am schwierigsten vermittelbar, und sie wird nur in Ausnahmefällen zur gedanklichen ›Artikulation‹ führen. So vollständig der Gedankenbericht in »Leutnant Gustl« auch erscheint – er stellt nur einen Bruchteil dessen dar, was das Bewusstsein Gustls (wenn wir ihn uns als reale Person denken) tatsächlich während der etwa sechs Stunden, die abgedeckt werden, prozessiert hat (die Auslassungspunkte, die in der Handschrift durch ihre variierende Anzahl noch stärker differenziert waren, als dann im Druck, können als Hinweis darauf – auf die gewissermaßen unproblematische Wahrnehmung – gelesen werden). Wiedergegeben werden nur diejenigen Vorstellungsinhalte, die in Differenz zur aktuellen Wahrnehmung stehen, also auf Abwesendes Bezug nehmen. Und wenn Wahrgenommenes in besonderer Weise die Aufmerksamkeit Gustls erregt, zu einem Kommentar reizt oder assoziativ wieder andere, abwesende Vorstellungen aufruft, findet es Eingang in den Text – aber auch dann nur in Form des Kommentars, nur in Form der gedanklich artikulierten Replik oder der Assoziation und nicht anhand einer vorgängigen, ausführlichen Beschreibung des Wahrnehmungsinhaltes selbst.

Diese gelegentliche Thematisierung des Wahrgenommenen ist für die Konstitution der Textwelt entscheidend, denn nur dank ihr kann der Leser die Außenwelt Gustls rekonstruieren. Befände die Hauptfigur sich in einer ungewöhnlichen, schwer zu durchschauenden Lage an einem entlegenen, der Leserschaft unbekannten Ort, wäre über die sporadischen, gedanklichen Kommentare kaum genügend Anschaulichkeit zu gewinnen. Zum Glück befindet sich Gustl aber in der Innenstadt Wiens, zum Glück tut er Dinge, die seine Leser alle schon einmal getan haben werden: Er hört ein Konzert, er steht an der Garderobe an, er geht spazieren, setzt sich auf eine Parkbank und schläft ein, er setzt sich in ein Kaffeehaus und frühstückt.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.