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Leutnant Gustl

[Im Kaffeehaus] S. 364-366

Zusammenfassung

Im Kaffeehaus wird Gustl vom Kellner Rudolf bedient, der ihm mitteilt, den Bäckermeister Habetswallner habe gestern Abend der Schlag getroffen. Er sei tot. Die Nachricht komme von dem Laufburschen, der um halb fünf Uhr früh das Gebäck bringe. Gustl kann sein Glück kaum fassen und bemüht sich, unbeteiligt zu wirken. Er hat eine Melange mit Haut bestellt und lässt sich eine Trabucco, eine Zigarre, kommen.

Er macht Pläne für den Tag: Gleich wolle er in die Kaserne hinüber und sich von Johann kalt abreiben lassen; dann folgen die militärischen Übungen. Mit Steffi will er sich am Abend treffen – unbedingt solle sie sich frei machen. Für das Duell ist er bestens aufgelegt – den Doktor werde er zu Krenfleisch (gekochtes Rindfleisch mit Meerrettich) hauen.

Analyse

In der Fassung der Handschrift findet sich, wenn Rudolf Gustl den Mantel abnehmen will, noch die Erklärung für die Geste eines Soldaten vom Vierundvierziger Regiment im Prater: »Was der für ein G’sicht macht?... Warum deut‘ er denn auf seinen Kopf?« (359), hatte es dort geheißen.

    Herr Lieut, wenn ich gehorsamst bitten darf Was ist denn? . Herr Lieutn. haben das Kappel vergessen Um Gotteswillen.. Richtig.. er hat recht .. Unglaublich .. Ja ist das schon je erhört worden. Jetzt bin ich durch die ganze Stadt ohne Kappel gegangen! . Ja Himmelsakrament .. wo ist denn das Kappel? Ohne das Kapel hab ich salutirt! ohne das Kappel bin ich durch die Burg gegangen. Wieso hat mich denn keiner angehalten? . Freilich – Offizier hab ich keinen getroffen .. Ja ich muss dem Rudolf doch was sagen .. Also .. es ist mir aus dem Wagen gefallen .. und nicht möglich dass ichs …Was lacht der Kerl denn so frech. Ich muss ihn nur fest anschaun, dann kriegt er Respekt. So … Jetzt werd ich mir was bestellen. Sie Rudolf – eine Melange, eine große.. und – Bitte gleich Herr Lieutn. Es ist doch immerhin.. ohne Kappel… und da hab ich mir noch immer eingebildet, ich bin bei Besinnung – Verrückt bin ich .. Meiner Seel . Es ist d höchste Zeit, dass ich . End mach – Ah Zeitungen.. (HKA 477-483)

An dem Detail lässt sich noch einmal gut die eigenartige Komik der Novelle demonstrieren. Gustl entledigt sich der Uniformkappe auf der Bank im Prater (»Ah, fort mit dem Kappl; mir scheint, das drückt mir aufs Gehirn… ich kann ja gar nicht ordentlich denken… Ah… so!« – 352), das heißt, er legt dort etwas von seiner gesellschaftlichen Person ab, um über die existenzielle Frage, die ihn bedrückt, besser nachdenken zu können; denn in der Tat (soviel scheint Gustl bewusst zu sein): Die Frage nach Leben und Tod bedenkt man besser mit etwas Abstand zu den gesellschaftlichen Erwartungen und in Distanz zu den gesellschaftlichen Rollen, die man normalerweise einnimmt. Dass Gustl die Kappe wieder aufzusetzen am frühen Morgen vergisst, ist verständlich: An seiner Lage hat sich nichts geändert; waum sollte er, auf dem Weg zum Selbstmord, die Uniformetikette beachten? Das Fehlen der Kappe deutet somit auf die Möglichkeit einer Entwicklung Gustls, auf ein Abstandnehmen zu seinem früheren, rein gesellschaftlich determinierten Selbst, an dessen Ende die Erkenntnis stehen könnte, dass der Ehrenkodex, der ihn zum Selbstmord zwingt, im Grunde ebenso äußerlich ist, ebenso abgenommen werden kann wie – die Uniformkappe. Die Reaktion Gustls auf die Bemerkung Rudolfs führt überdeutlich vor Augen, dass Gustl sein gesellschaftliches Selbst nicht abgelegt hat, sondern – darin liegt die Komik – noch angesichts des Todes voll darin befangen ist.

Schnitzler tilgt die Passage für die Druckfassung. War sie ihm dann doch etwas zu burlesk? Die beiden anderen Stellen – das Abnehmen der Kappe und die Geste des Vierundvierzigers – bleiben stehen, man muss also davon ausgehen, dass Gustl tatsächlich ohne Kappe das Kaffeehaus betritt. In der Druckfassung macht Rudolf ihn nicht darauf aufmerksam – es wird ihm schon früh genug auffallen.

Nach dem Dialog mit dem Bäckermeister an der Garderobe ist das Gespräch mit dem Kellner Rudolf das zweite und längste der Novelle. Die erprobten Techniken zur Umsetzung des Dialogs in den gedanklichen Monolog kommen wieder zum Einsatz: Die Inquit-Formeln entfallen, Anführungszeichen und Absätze markieren die wörtliche Rede und den Sprecherwechsel, es gibt Gedanken, die noch in die Rede des Gegenübers fallen (»Warum red’t er denn nicht weiter?... Aber er red’t ja…« – 364) und gedankliche Kommentare der eigenen Redebeiträge: »Famos, famos! – ganz harmlos hab‘ ich das gesagt! –« (365)

Es ist vergnüglich zu sehen, mit welcher guten Laune und Siegesgewissheit Gustl sein altes Selbst wieder anzieht und Arrangements für den vor ihm liegenden Tag trifft. Seine wiedergewonnene Vitalität äußert sich in Appetit (»Komisch, wie ich mir da immerfort die Semmel einbrock‘, die mir der Herr Haberstwallner gebacken hat! Schmeckt mir ganz gut, Herr von Habertswallner«), sexueller Begierde (»Und der Steffi schreib‘ ich, sie muß sich für heut abend frei machen, und wenn’s Graz gilt!«), Genusssucht (»So, jetzt möchte‘ ich noch ein Zigarrl rauchen…«) und Kampfeslust (»Und nachmittags um vier… na wart‘, mein Lieber, wart‘, mein Lieber! Ich bin grad‘ gut aufgelegt… Dich hau‘ ich zu Krenfleisch!« – alles 366).

Dabei erweist sich, dass Gustl den militärischen Ehrenkodex doch nicht so weit verinnerlicht hat, wie es zwischenzeitlich den Anschein machte: Sobald er sicher sein kann, dass der Bäckermeister von dem Zwischenfall an der Garderobe niemandem etwas erzählen wird, ist ihm die de facto geschehene Beleidigung herzlich egal. Ja er wirkt, als habe er sich doch mit dem Bäckermeister duelliert, und als sei dieser auf dem Platz liegen geblieben.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.