Skip to main content

Leutnant Gustl

Zitate und Textstellen

  • »Wie lange wird denn das noch dauern?«
    – Gustl, 337

    Der Anfang der Novelle kann natürlich nicht der Anfang des Bewusstseinsstroms sein, den sie wiedergibt. Die Novelle muss also ›mittendrin‹ beginnen. Sprachlich wird das durch die Objektdeixis ›das‹ realisiert. Gustl verweist in Gedanken auf etwas Präsentes, schon Eingeführtes – das Konzert, in dem er sich befindet. Der Leser muss dies erst erschließen – das heißt, Schnitzler muss rasch genug einen Vorwand dafür finden, dass Gustl in Gedanken ›ausspricht‹, wo er sich befindet. Dies geschieht denn auch schon im zweiten Satz: »Ich muß auf die Uhr schauen… schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert.« Ausgedrückt wird in der Frage nach der Dauer des Konzerts freilich auch die nervöse Ungeduld, die ein Wesensmerkmal der Hauptfigur ist.

  • »Und wenn ihn heut nacht der Schlag trifft, so weiß ich’s… ich weiß es… und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!«
    – Gustl, 348

    Diese Selbsteinschätzung erweist sich am Ende der Novelle als Fehleinschätzung. Es trifft ihn – den Bäckermeister – der Schlag, und obwohl Gustl weiß, welcher ›Schimpf auf ihm sitzt‹, trägt er weiter Rock und Säbel. Keinen Moment lang kommt ihm der Gedanke, er müsse sich trotzdem umbringen. Dass die Todesart Habetswallners an dieser Stelle schon vorweggenommen wird, ist ein ironischer Wink des Autors.

  • »Unglaublich, weswegen sich die Leut‘ totschießen! Wie kann man überhaupt nur eifersüchtig sein?... Mein Lebtag hab‘ ich so was nicht gekannt… Die Steffi ist jetzt gemütlich in der Gartenbaugesellschaft; dann geht sie mit ›ihm‹ nach Haus… Nichts liegt mir dran, gar nichts!«
    – Gustl, 350

    Gustl, der niemals ernsthaft verliebt war, erscheint es lächerlich, dass jemand aus Eifersucht zur Waffe greift, während doch er sich totschießen will, nur weil ihm die Beleidigung durch den Zivilisten Habetswallner nach dem herrschenden Ehrenkodex die Satisfaktionsfähigkeit entzieht – sobald jemand davon erfährt. Die Passage ist also (von Seiten des Autors, nicht von Seiten Gustls) hochgradig ironisch. Gleichzeitig offenbart sie Gustls eigentliche Haltung zu seiner Geliebten und zu Frauen im Allgemeinen.

  • »Wie sie neulich in dem grünseidenen Schlafrock hereingekommen ist… den grünen Schlafrock wird‘ ich auch immer seh’n – und die ganze Steffi auch nicht…«
    – Gustl, 350

    Trotz der allgegenwärtigen Erotik, dem ständigen Schauen nach schönen Frauen und den flüchtigen Flirts Gustls, nutzt Schnitzler die Lizenz zu expliziteren sexuellen Beschreibungen, die er, weil er Gustls Gedanken wiedergibt, eigentlich hätte beanspruchen können, nicht aus. Die zitierte Passage ist die, die sich einer Beschreibung des Geschlechtsakts am weitesten annähert – und dies mittels einer traditionellen Technik, nämlich nur den noch weitgehend unschuldigen Beginn der körperlichen Annäherung zu schildern, um damit das, was folgt, nach dem Prinzip einer Synekdoche zu suggerieren.

  • »Ja, ich sollt‘ doch eigentlich nach Haus… was tu‘ ich denn zu Haus? aber was tu‘ ich denn im Prater?«
    – Gustl, 351

    Die Absurdität der Situation, in der sich Gustl befindet, blitzt gelegentlich auf. Was ist der rechte Ort für ihn? Es gibt keinen. Die Absurdität seiner Situation (der den gesellschaftlichen Ausschluss fürchten muss, weil er eine Beleidigung nicht rächen darf, und meint, sich deshalb umbringen zu müssen) ist dabei nur eine zugespitzte Version der Absurdität, als die jedermanns Alltag vom Tod her betrachtet erscheinen muss (wo soll man sich aufhalten, wenn man weiß, dass man in wenigen Stunden sterben muss?). Die lässige Einbindung dieser Dimension in den Gedankenfluss des lakonischen, witzigen Leutnants gehört zu den besonderen Reizen und Qualitäten der Novelle.

  • »Daß mich manchmal selber vor mir graust, das hab‘ ich ihnen ja doch nicht geschrieben – na, mir scheint, ich hab’s auch selber gar nicht recht gewußt – Ah was, kommst du jetzt mit solchen Sachen, Gustl? Fehlt nur noch, daß du zum Weinen anfangst… pfui Teufel! – Ordentlich Schritt… so!«
    – Gustl, 357 f.

    Eine der wenigen Indizien dafür, dass Gustl von seinem sozial determinierten Selbst unter dem Eindruck des drohenden Todes etwas Abstand gewinnt. Ihm wird ein Aspekt seiner selbst bewusst, von dem seine näheren Angehörigen, die nur wissen, »[d]aß ich meinen Dienst mach‘, daß ich Karten spiel‘ und daß ich mit Menschern herumlauf‘« (357) (also – abschätzig – mit Frauen), nichts ahnen. Er ist klug genug, zu bemerken, dass dieser Aspekt gerade erst an ihm hervorgetreten ist, und folglich noch nicht Gegenstand von Briefen an die Familie sein konnte. Dann ruft er sich – wie an vergleichbaren Stellen auch – sogleich zur Ordnung.

  • »Halb vier auf der Nordbahnuhr… jetzt ist nur die Frage, ob ich mich um sieben nach Bahnzeit oder Wiener Zeit erschieß‘?«
    – Gustl, 358

    Ein Beispiel von vielen für die Selbstironie, mit der Gustl seine Situation behandelt, und die auf der Verbindung seiner existenziellen Krise mit Elementen des täglichen Lebens beruht. In Österreich-Ungarn gab es eine allgemein verbindliche, an der Prager Zeit orientierte ›Bahnzeit‹. Diese wich um wenige Minuten von der Wiener Zeit ab.

  • »Ah, das ist nicht schlecht: der Katzer… seit wann ist denn der zu den Vierundvierzigern übersetzt? – Servus, Servus! – Was der für ein G’sicht macht?... Warum deut‘ er denn auf seinen Kopf? – Mein Lieber, dein Schädel interessiert mich sehr wenig… Ah, so! Nein, mein Lieber, du irrst dich: im Prater hab‘ ich übernachtet…«
    – Gustl, 359

    Gustl hat bei der Parkbank seine Uniformkappe vergessen – darauf weist ihn Katzer hin. Gustl versteht die Geste aber nicht, und dann versteht er sie offenbar falsch, so als habe Katzer mit der Geste angedeutet, wo Gustl seiner Meinung nach die Nacht verbracht habe. Das Fehlen der Kappe deutet darauf, dass Gustl aus der Offiziersgesellschaft schon ein Stück weit ausgeschieden ist. In der Fassung der Handschrift wird er des Missgeschicks im Kaffeehaus inne, in der Druckfassung bleibt die Sache offen.

  • »Komisch, wie ich mir immerfort die Semmel einbrock‘, die mir der Herr Habetswallner gebacken hat!«
    – Gustl, 366

    Noch ein komischer Umstand: Der Bäckermeister Habetswallner beliefert das Kaffeehaus, in dem er und Gustl Stammgäste sind. Gustl isst also am Morgen gleichsam Habetswallners Semmeln. Die Formulierung erinnert außerdem an die Redensart, ›sich/jmdm. etw. einbrocken‹, und ›die Suppe auslöffeln, die man/jmd. sich/einem eingebrockt hat‹. Dass Gustl die Semmeln einbrockt, bedeutet hier ganz konkret, dass er sie in Bruchstücken in den Kaffee tunkt. Er drohte, durch den Selbstmord die Suppe auslöffeln zu müssen, die Habetswallner ihm mit der Beleidigung eingebrockt hat. Jetzt aber musste Habetswallner mit seinem Tod selbst diese Suppe auslöffeln – obwohl freilich zwischen der Beleidigung und dem Gehirnschlag kein ursächlicher Zusammenhang besteht.

  • »Dich hau‘ ich zu Krenfleisch!«
    – Gustl, 366

    Der Schlusssatz, der so auch schon in der Handschrift steht. Es ist eine bittere Pointe, die das Ausbleiben einer charakterlichen Veränderung Gustls zum Ausdruck bringt. Er hat eben keine Distanz zum Ehrenkodex gefunden, in dessen Namen er den Doktor schlagen will. Den Tod Habetswallners erlebt er als Selbstbestätigung, als schicksalhaftes Glück, ja als Triumph. Die Gewissheit, unbehelligt weiterleben zu können, erhöht seine Vitalität und damit auch seine Gewaltbereitschaft.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.