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Leutnant Gustl

Interpretation

Individuum und Gesellschaft

So wichtig die Frage nach dem Status und dem Typus des österreichischen Offiziers für die Novelle und ihre Rezeption ist, lohnt vielleicht die Überlegung, ob die Novelle nicht ein tieferliegendes Problem bearbeitet, das sich anhand der Figur des jungen, leichtfertigen Leutnants nur besonders gut darstellen lässt.

Wegen der Entscheidung, die sich Gustl aufdrängt – ob er leben oder sterben soll –, ist die Novelle häufig in Zusammenhang mit dem Entscheidungsmonolog Hamlets gebracht worden. Wie Gustl sich aufgefordert sieht, den Schimpf des Bäckermeisters an sich selbst zu sühnen, so wird Hamlet von dem Geist seines Vaters befohlen, dessen Ermordung an seinem Onkel zu rächen. Wie Gustl es in der Garderobe versäumt, auf der Stelle seine Ehre wiederherzustellen, und dadurch (er hat keinen Revolver dabei) eine Nacht lang Zeit für Reflexionen gewinnt, so zögert Hamlet, Claudio kurzerhand umzubringen. Nicht anders kann er noch am Hof existieren, als indem er vorgibt, verrückt zu sein. Seine Monologe deuten auf einen ihm selbst nur schwer verständlichen Widerstand, den er der Befolgung des Rachegebots entgegensetzt. Sowohl Hamlet als auch Gustl – der Vergleich wirkt wegen des unterschiedlichen Formats der beiden Figuren immer auch etwas komisch – setzen dem Handlungsgebot nicht grundsätzlich etwas entgegen (Hamlet zweifelt nicht, dass er Claudio wird töten müssen), und doch verhindert in ihrem Bewusstsein etwas die unmittelbare Befolgung des Gebots.

Die Besonderheit liegt in beiden Fällen darin, dass der Konflikt vollständig in das Bewusstsein der beiden Protagonisten verlagert wird. Gustl kann mit niemandem über seine Situation sprechen, ohne nicht durch seine Äußerung bereits eine Entscheidung zu treffen. Hamlet sieht sich den Verdächtigungen des usurpatorischen Königs ausgesetzt und muss sich eines komplizierten theatralen Arrangements bedienen, um die Sache selbst weiter untersuchen zu können.

Die Frage ist, wie weit die Internalisierung sozialer Normen im Einzelbewusstsein reichen kann? Oder, anders gewendet: wie geht das Einzelbewusstsein mit grundsätzlich akzeptierten sozialen Normen um, wenn diese den eigenen Tod (oder eine vergleichbare, die Existenz betreffende Handlung) fordern, und das Individuum mit der Entscheidung, der Norm zu folgen oder nicht, allein ist – also für die Entscheidung oder in der anderen Richtung keine soziale Rückversicherung einholen kann?

Trotz der Monologe findet die Austragung dieses Konflikts im »Hamlet« weitgehend im Verborgenen statt – wir sehen nur die sozialen Folgen seines Zögerns und die sozialen Formen, durch die er seinen Auftrag und sein Zögern mehr oder weniger konsequent zu verbergen sucht. Im »Leutnant Gustl« hingegen wird en detail vorgeführt, wie das Bewusstsein mit der plötzlichen, existenziellen Anforderung verfährt.

Tatsächlich gibt es gegen das Todesurteil, das Gustl selbst gegen sich spricht, einen Widerstand, der nicht auf diskursiver Ebene liegt, also nicht aus Argumenten besteht (die Diskussion der Alternativen der Auswanderung und des unehrenhaften Abschieds ist schnell erledigt), sondern aus der ungebrochenen Beweglichkeit des Bewusstseins selbst, das Vorstellungen, Erinnerungen, Assoziationen, Kommentare und ähnliches prozessiert, so als wäre nichts geschehen. Es sind gewiss dies die Momente, in denen Gustl sich der meisten Sympathie versichert halten darf, in denen er dieser eigenen, munteren Fortarbeit seines Bewusstseins innewird und sich selbst zur Raison ruft. 

Sozialkritik

Unterstellt man »Leutnant Gustl« einmal eine sozialkritische Intention, ist es gar nicht so einfach zu definieren, was genau Gegenstand der Kritik sein sollte. Kritisiert Schnitzler den im Offizierskorps weitverbreiteten Antisemitismus? Von Gustav David, in seinem in der »Reichswehr« erschienenen Artikel, wird Gustl aber die Inkonsequenz seines Antisemitismus vorgeworfen: Weil er, trotz seiner Einstellung, bei den reichen Mannheimers verkehrte, sei er ein Schmarotzer (vgl. Renner 61). Von katholischer Seite her wird der verengte Ehrbegriff angegriffen, der Gustl gegen die Beleidigung durch den Bäckermeister empfindlich, gegen seine unsittlichen Liebesverhältnisse und seine Missachtung der Religion aber unempfindlich mache. Die antisemitischen Agitatoren prangern an, dass Gustl sich nicht, auch nach der Nachricht vom Tod des Bäckermeisters, erschossen, dass er den militärischen Ehrbegriff also nicht bis zur letzten Konsequenz verinnerlicht hat. Ebenso wird die Behauptung des Doktors von der Vielfalt der Motive, die bei der Wahl einer Offizierskarriere eine Rolle spielen möchten, als direkter Affront Schnitzlers gewertet und damit die Entscheidung des fiktiven Gustls, den Doktor zum Duell zu fordern, realiter nachvollzogen.

Aus etwas mehr Distanz lässt sich Gustls Habitus durchaus an die tatsächlichen sozio-ökonomischen Verhältnisse junger österreichischer Offiziere rückbinden. Ihr geringes Gehalt (70 Gulden, wenn sie in der Kaserne wohnten) stand im Widerspruch zu dem geforderten, pseudo-aristokratischen Lebensstil, wie sich an den Spielschulden Gustls zeigt: Die 160 Gulden entsprachen etwas mehr als zwei Monatsgehältern. Vor allem den erotischen Bereich strukturiert der notorische Geldmangel. Gustl kann sich keine eigene 

    Mätresse leisten, sondern allenfalls Flirts und kurzfristige Beziehungen, es sei denn, die Frau ist ökonomisch unabhängig von ihm, wie die Adele, die in »einem G’schäft« arbeitete, oder die Steffi, die von einem Reserveleutnant ausgehalten wird, der in einer Bank tätig ist. Ihnen gegenüber ist der junge Leutnant von einer strukturell bedingten Unselbständigkeit und letztlich unfähig zur Selbstachtung. Was ihm in seinem Leben fehlt, spricht sich in dem Wunsch aus, mit einer (verheirateten) ›anständigen Frau‹ eine Liaison einzugehen, »da hätt‘ man einen Respect vor sich selber haben dürfen«. Wie es im Märchen die Prinzessin ist, die den Bauernsohn zum König, und das heißt: zum erwachsenen Mann, macht, so soll hier die ›anständige Frau‹ – im Ehebruch, ironischerweise – den tiefsten Mangel beheben, den Mangel an Selbstachtung.
    Somit lebt der Offizier in Friedenszeiten in einem doppelten Widerspruch, der ihn als Mann beeinträchtigen muss. Er ist einerseits Erwachsener, andererseits ökonomisch so abhängig, dass er weder sich selbst noch eine Frau ernähren kann; er ist in einem kriegerischen Beruf tätig, aber in Abwesenheit des Krieges. (Schnitzler 2007, 123)

Das Ressentiment gegen die Juden, gegen den (ökonomisch oft weit besser gestellten) zivilen Stand und gegen die randständigeren (und ökonomisch anders abgesicherten) Angehörigen des Offizierskorps, die Reserveoffiziere und die Einjährig-Freiwilligen, kann mithin als Kompensation dieses allgemeinen Minderwertigkeitsgefühls begriffen werden.

Es ist die Unbedarftheit, die Unschuld, möchte man fast sagen, mit der Gustl sich den Habitus, die Ansichten und die Verhaltensweisen seines Standes angeeignet hat, die ihn zum Exponenten der geschilderten Problemlage geeignet macht. Über sein Wesen jenseits dieser sozialen Determination ist damit noch nicht viel gesagt, und es sind unter den Reaktionen auf die Novelle einige Stimmen laut geworden (darunter Schnitzlers eigene), die ihn nicht für so verloren hielten wie die Anhänger des Militarismus und die militanten Verteidiger der Offiziersehre.

Abstrahiert man auch diese Problemlage (aggressives Männlichkeitsideal, Misogynie, stark integrierte soziale Bezugsgruppe mit strengen Ausschlusskriterien, tatsächliche ökonomische Unselbständigkeit) ergeben sich für die Novelle in der Gegenwart durchaus Anschlussmöglichkeiten.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.