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Leutnant Gustl

[Früh morgens im Prater] S. 356-360

Zusammenfassung

Gegen drei Uhr wacht Gustl auf der Parkbank wieder auf und kommt, nachdem er zuerst seinen Diener Johann anzusprechen meint, langsam zu sich und zum Bewusstsein seiner Situation. Die Parkluft erinnert ihn daran, wie er einmal auf Vorposten im Wald kampiert hat. Außerdem war er mit Pausinger im letzten Mai schon einmal um vier Uhr früh im Prater.

Wahrscheinlich werden die anderen am Abend im Weingarten sitzen, so wie sie auch nach dem Tod Lippays abends im Weingarten gesessen haben, obgleich Lippay noch beliebter im Regiment war als er.

Wieder spekulierend, wie Steffi wohl reagieren werde, fällt ihm eine frühere Geliebte, die Adel‘, ein, an die er vielleicht zwei Jahre nicht mehr gedacht hat, und die als einzige wirklich etwas an ihm gefunden hatte. Das Verhältnis mit ihr wurde ihm aber zu eintönig und zu anstrengend. Mit Steffi jetzt sei es bequemer, weil er sie nur ab und zu treffe, und ihr Verehrer alle Unannehmlichkeiten mit ihr habe, und er nur das Vergnügen.

Seine Eltern hätten nur ein oberflächliches Bild von ihm und wüssten nicht – was er selbst bisher nicht wusste –, dass ihn manchmal vor sich selbst grauste. Mit den Worten eines Major Lederer, am Gang erkenne man einen Offizier, und dieser Gang müsse derselbe sein, ob es nun auf den Posten oder in die Schlacht gehe, tadelt er seine eigene Rührseligkeit.

Auf der Uhr des Nordbahnhofs ist es halb vier Uhr und Gustl merkt, dass er Hunger hat, denn seit gestern sechs Uhr abends im Kaffeehaus (eine Melange und zwei Kipfel) hat er nichts mehr gegessen. Er bekommt Lust, sich doch an dem Bäckermeister dadurch zu rächen, dass er Kopetzky und dem Oberst die ganze Geschichte aufschreibt. Der Bäckermeister habe ihn umgebracht.

Er stellt sich vor, wie Johann, sein Diener, in sein Zimmer kommt und ihn nicht vorfindet, und sieht das Vierundvierziger Regiment zur Schießstätte vorbeiziehen. In einem oberen Stockwerk sieht er eine hübsche Frau im Négligée und denkt daran, dass es Steffi sein wird, mit der er als letztes geschlafen hat. Das sei doch am Ende das letzte reale Vergnügen.

Er fragt sich, wer seine Stelle im Regiment bekommen werde.

Die Sonne geht auf. Bei dem Gedanken, dass ein Komfortabelkutscher um acht Uhr noch auf der Welt sein wird, und er nicht, bekommt er Herzklopfen und Angst, die er sich gleich verbittet. Er solle sich anständig verhalten, zuletzt. Die Pistole liege im Nachtkasten, sie sei geladen und müsse nur abgedrückt werden.

Analyse

Das in Maupassants Novelle »Un lâche« zentrale Motiv der Todesangst kommt nun auch in »Leutnant Gustl« zum Zuge – allerdings in weit unbedeutenderer Stellung:

    Was ist denn das, daß ich auf einmal so ein blödes Herzklopfen krieg‘? – Das wird doch nicht deswegen sein… Nein, o nein… es ist, weil ich so lang‘ nichts gegessen hab‘. – – Aber Gustl, sei doch aufrichtig mit dir selber: – Angst hast du – Angst, weil du’s noch nie probiert hast… Aber das hilft dir ja nichts, die Angst hat noch keinem was geholfen, jeder muß es einmal durchmachen, der eine früher, der andere später, und du kommst halt früher dran… (359 f.)

Die Angst des Maupassantschen Protagonisten ist außerdem nicht so sehr die Angst vor dem Tode selbst, sondern die Angst vor der Angst – nämlich der Beschämung, die er, wenn seine Angst offenbar würde, in der Duellsituation erleiden müsste. Der Suizid – dort durchgeführt, hier noch abgewendet – soll in beiden Fällen dem drohenden gesellschaftlichen Ehrverlust zuvorkommen. Der Ehrverlust hätte bei Maupassant eine einfache psychologische Ursache – eben die Todesangst –, bei Schnitzler wäre er Folge des Geschicks, mit dem ein Zivilist sich die Gegebenheiten eines wohlbekannten Elements gesellschaftlichen Lebens (das Anstehen an der Garderobe nach einer Aufführung) und seine körperliche Überlegenheit zunutze macht, um einem Offizier eine Beleidigung zuzufügen, die dieser nicht rächen kann. Wie man sieht, ist die Konstruktion bei Schnitzler voraussetzungsreicher – sie neigt eher ins Komödienhafte. Sie ist außerdem eher geeignet, die teilweise absurden Regeln des geltenden Ehrenkodex vorzuführen.

Die Novelle endet mit einem Ausdruck unbedingter Vitalität, und nach dem Schlaf auf der Parkbank gibt es zu einer solchen Rückkehr des Lebensmutes erste Anzeichen. Neid auf diejenigen stellt sich ein, die sich nicht, wie er, umbringen müssen, und in Folge dieses Neides Wut auf den Bäckermeister. Gustl überlegt, wie er sich an ihm doch noch rächen kann – und muss sich eingestehen, dass er von der Rache nichts mehr haben wird (vgl. 358 f.).

Die Reflexionen werden fortgeführt, so über die engste Familie: Nachdem er zunächst bemüht war, gar nicht an sie zu denken, weil er sonst verzagen müsste; nachdem er sich einen eintägigen Ausflug nach Graz ausgemalt hatte, um sie noch ein letztes Mal zu besuchen; stellt er jetzt die Intimität des Verhältnisses zur Familie grundsätzlich in Frage:

    Ja, ich bin halt der Sohn, der Bruder… aber was ist denn weiter zwischen uns? gern haben sie mich ja – aber was wissen sie denn von mir? – Daß ich meinen Dienst mach‘, daß ich Karten spiel‘ und daß ich mit Menschern herumlauf‘… aber sonst? – Daß mir manchmal selber vor mir graust, das hab‘ ich ihnen ja doch nicht geschrieben – na, mir scheint, ich hab’s auch selber gar nicht recht gewußt. (357 f.)

Diese ständige Korrektur der eigenen Ideen und Vorstellungen ist für Gustl charakteristisch – und, nicht ohne Humor, Ausdruck einer gewissen, munteren Abgeklärtheit, durchaus in der Lage, ihm beim Leser Sympathien zu erwerben.

Auf der Seite der Liebschaften kommt mit der Adel‘ eine neue Frau ins Spiel. Vom Tod her blickt man auf Einmaliges (das einzige Mal, dass er Angst hatte), auf Erstes (die erste sexuelle Erfahrung) und Letztes (»Daß grad‘ die Steffi die letzte sein wird, hab‘ ich mir nicht träumen lassen« – 359) und auf Superlative. Von Adel‘ sagt er: »war doch die einzige, die dich gern gehabt hat…« (357)

Markiert wird im Text, dass Gustl von der Bank aufsteht (»Aufstehn! Aufstehn! … Ah, so ist es besser!« – 356), aber nicht die Bewegung, in die er sich setzt, und nicht die Bewegungsrichtung. Zwei Seiten später ist Gustl dann in Sichtweite des (mittlerweile abgerissenen) Nordbahnhofes, also wohl am Praterstern, dem Hauptplatz vor dem Prater. Die Bemerkung, »jetzt ist nur die Frage, ob ich mich um sieben nach Bahnzeit oder nach Wiener Zeit erschieß‘?« (358), ist typisch für Gustls Humor – für die Konfrontation der Frage nach Leben und Tod mit Elementen des alltäglichen Lebens: »Für den Fahrplan des Zugverkehrs in den Ländern der Monarchie galt eine einheitliche ›Bahnzeit‹; sie entsprach der ›Prager Zeit‹ und wich um einige Minuten von der ›Wiener Zeit‹ ab.« (HKA, 562)

Wenn Gustl darauf imaginiert, dass ein Mitglied des ihm begegnenden Vierundvierziger Regiments bezeugen wird, ihn am Morgen auf der Praterstraße getroffen haben, befindet er sich offenbar auf ebendieser, zur Inneren Stadt zurückführenden Straße, die er auch bei seinem Hinweg benutzt haben wird.

Räumlich realisiert die Novelle also das einfache Schema aus Hin- und Rückweg. Der Park stellt einen Punkt maximaler Entfernung von den gesellschaftlichen Beobachtungsverhältnissen dar. Ziel der Bewegung (aber es wird nicht erreicht werden) ist jetzt die Wohnung, deren Adresse wir nicht kennen.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.