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Leutnant Gustl

[Die Konsequenzen] S. 345-348

Zusammenfassung

Auf der Straße überdenkt Gustl die Konsequenzen der zurückliegenden Konfrontation. Er geht ziellos umher und kommt unter anderem am Café Hochleitner vorbei, dem 1861 von dem Ehepaar Johanna und Raimund Hochleitner gegründeten Café Schwarzenberg am Kärntner Ring 17 im 1. Wiener Bezirk, in dem er einige seiner Kameraden vermutet. Es schlägt elf Uhr. Er überlegt, doch etwas zur Nacht zu essen und sich in irgendein Beisl zu setzen, wo ihn niemand kennt.

Er geht seine Handlungsmöglichkeiten durch. Morgen wird er den Bäckermeister wahrscheinlich im Kaffeehaus treffen, wo er gewöhnlich mit Schlesinger und dem Kunstblumenhändler Tapper spielt. Er würde ihn dort gerne zusammenhauen, aber das darf er nicht, weil der Bäckermeister ein Zivilist ist. Weiter überlegt er, die Sache dem Obersten zu melden. Aber der Oberste werde ihm vermutlich bedeuten, ihm bleibe nichts, als in Schimpf und Schande den Dienst zu quittieren.

Er könnte zum Bäckermeister in die Wohnung gehen und ihn beschwören, die Sache niemandem zu erzählen. Aber dadurch würde er seine Abhängigkeit von ihm nur noch unterstreichen. Schon jetzt dürfte seine Frau davon wissen, und morgen vielleicht die Bekannten im Kaffeehaus.

Er stellt sich vor, was seine Kameraden Kopetzky, Blany, Friedmair, was der Oberst sagen würde, und kommt bei allen zum Ergebnis: Sie müssten sagen, es bliebe ihm nichts als der Suizid.

Wegen des Duells am Folgetag fällt ihm ein, dass er nun, saktisfaktionsunfähig, dazu nicht mehr antreten dürfte.

Er verflucht die Zufälle, die ihn in das Konzert gebracht haben und er verflucht die Ohnmacht der Offiziere vor den Zivilisten.

Er stellt sich vor, wie man auf seinen Tod reagieren würde, was in der Zeitung stünde. Steffi dürfte sich wegen ihres Verehrers nichts anmerken lassen, die anderen würden sich wegen der Ursache den Kopf zerbrechen. Sie würden die Nichtigkeit des Anlasses beklagen, wenn sie davon erführen, obwohl sie ihm jetzt nichts anderes zu raten wüssten.

Er zieht andere Fälle aus seinem Umfeld zu Rate. Über die Satisfaktionsfähigkeit eines gewissen Deckener hatte ein Ehrenrat entscheiden müssen: Man hatte sie ihm trotz vieler Gerüchte zuerkannt. Den raschen Tod versucht er sich mit Anekdoten von unerwarteten Todesfällen erträglicher zu machen: Bauer war einer Gehirnentzündung innerhalb von drei Tagen erlegen, Brenitsch hatte sich bei einem Sturz vom Pferd das Genick gebrochen, morgen könnte Gustl der Doktor mit dem Säbel erschlagen. Den drohenden Ehrverlust illustriert ihm ein gewisser Ringeimer, dem ein Fleischselcher, weil er ihn mit seiner Frau erwischt hatte, eine Ohrfeige gegeben hatte; daraufhin hatte er den Dienst quittiert und auf dem Land geheiratet. Ihn würde Gustl, wenn er nach Wien käme, weiterhin verachten.

Er erwägt, ob er sich die ganze Geschichte nur ausgedacht haben könnte, meint aber noch die Hand des Bäckermeisters an den Fingern zu spüren und seine Worte im Ohr zu haben.

Analyse

Der ziellose Gang zur Aspernbrücke (vom Musikverein aus etwa 1,7 Kilometer, eine knappe halbe Stunde Fußweg) beschäftigt die Wahrnehmung Gustls kaum. Nur das Schlagen der Uhr und das Café Hochleithner (Café Schwarzenberg, keine 300 Meter vom Musikverein entfernt) werden von ihm registriert.

Seine Gedanken können erst dann wieder weiter ausgreifen, wenn er sich über die Folgen des Vorfalls an der Garderobe Rechenschaft gegeben hat. Wie gesagt, gibt es zur Wiederherstellung seiner Ehre nach den gängigen Vorstellungen keine andere Möglichkeit als den Austritt aus dem Militär oder den Suizid. Wie immer orientiert sich Gustl dabei an anderen – an vergleichbaren Fällen und an dem Rat, von dem er meint, dass seine Bekannten ihn geben würden. Im Fall Ringeimers ist die Konflikt-Dynamik zwischen Gustl und dem Bäckermeister noch weiter auf die Spitze getrieben. Wie an der Garderobe geht die Aggression eigentlich von dem Offizier aus, nicht von dem Zivilisten. Der Bäckermeister kann nichts dafür, dass er, korpulent wie er ist, »schier die ganze Garderobe [verstellt]« (343), aber das: »Sie, halten Sie das Maul!« Gustls ist, nach den Stößen und den Ermahnungen des Bäckermeisters, eine direkte Grenzüberschreitung, die er denn auch in Gedanken als solche sogleich einordnet. Ringeimer verletzt die Ehre des Fleischselchers noch viel drastischer, wenn er mit dessen Frau schläft. Er muss aber wegen der Ohrfeige, die er sich dabei einhandelt, den Dienst quittieren. Wenngleich er sich selbst damit arrangiert zu haben scheint – Gustl verachtet ihn und würde ihm diese Verachtung auch deutlich machen, wenn er ihm in Wien begegnete. Damit spricht er auch sein Urteil.

Ist die Ehre, um derentwillen Gustl sich erschießen will, für ihn ein Wert an sich, oder bleibt sie an die soziale Dimension gebunden? Wenn sie ein Wert an sich ist, muss sich Gustl in der Tat erschießen, egal, wer von dem Vorfall weiß oder nichts weiß. Er scheint in seinen Überlegungen zu diesem Punkt zu gelangen, wenn es heißt: »heiliger Himmel!, es ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß!... ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache! Ich spür‘, daß ich jetzt wer anderer bin, als vor einer Stunde – Ich weiß, daß ich satisfaktionsunfähig bin, und darum muß ich mich totschießen…« (346) Gleich darauf gibt es für diese Schlussfolgerung aber eine Begründung, die sie doch an die soziale Dimension wieder zurückbindet: »Keine ruhige Minute hätt‘ ich mehr in meinem Leben… immer hätt‘ ich die Angst, daß es doch einer erfahren könnt‘, so oder so… und daß mir’s einer einmal ins Gesicht sagt, was heut‘ abend gescheh’n ist!« (346) Die Pointe der Novelle – dass ihm die Ehrverletzung gleichgültig wird, sobald er sicher weiß, dass tatsächlich niemand davon erfahren kann – wird hier vorsichtig genug, um noch als Überraschung wirken zu können, vorbereitet.

Realistische Effekte erzeugt Schnitzler durch die Erwähnung öffentlich bekannter Personen. Im Musikverein sangen so Edyth Walker (1867–1950), eine amerikanische Mezzosopranistin, die von 1895 bis 1903 an der Wiener Hofoper engagiert war, und Margarethe Michalek (1875–1944), eine Wiener Sopranistin, Mitglied der Wiener Hofoper von 1897–1910. Jetzt charakterisiert Gustl die körperliche Überlegenheit des Bäckermeisters mittels einer Vossianischen Antonomasie (Bsp.: Markus Lanz ist der Till Schweiger unter den Talkmastern): »Ein Kraftmensch ist er, ein Jagendorfer…« (348) »Der Berufsathlet Jagendorfer, Besitzer eines Etablissements für Sportarten wie Gewichtheben oder Keulenschwingen, galt als der stärkste Mann von Wien«, erläutert die Historisch-Kritische-Ausgabe (HKA 558).

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.