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Der Trafikant

Abschnitt 2 (S. 22-48)

Zusammenfassung

Zwischen einem Installationsbüro und einer Fleischhauerei findet Franz schließlich die Trafik, welche Zeitungen, Schreibwaren und Rauchwaren vertreibt. In dem kleinen und überfüllten Verkaufsraum erblickt er einen älteren Mann. Dieser begrüßt Franz und weiß direkt, wer er ist, ohne von seinem Aktenordner aufzuschauen. Auch Franz erkennt ihn richtig als Otto Trsnjek, der mit Krücken hervor kommt. An einem seiner Beine kann Franz bloß einen Stumpf ausmachen. Trsnjeks Leidenschaft für seinen Beruf und die Waren werden deutlich. Ebenfalls erkundigt er sich nach Franz' Mutter. Eine kurze Einarbeitung folgt, in welcher Trsnjek Franz den Hocker neben der Eingangstür zuweist, auf welchem er, falls es nichts anderes zu tun gäbe, ruhig Zeitung lesen solle. Trsnjek hebt vor diesem Hintergrund die besondere Wichtigkeit des Zeitunglesens hervor. Eine Trafik lasse sich darüber hinaus durch ihre Zigarren auszeichnen. Die Politik sieht Trsnjek als Feind des Zigarrengeschäfts, welches durch Lieferengpässe und schwankende Lagerbestände erschwert wird.

Franz Arbeitstage starten um 06:00 Uhr morgens. Er wohnt in einer kleinen Lagerkammer hinter dem Verkaufsraum, wodurch er von einem kurzen Arbeitsweg profitiert. Die Vormittage gestalten sich weitestgehend ereignislos, sodass Franz sie lesend auf dem Hocker verbringt. Er ist an das viele Lesen nicht gewöhnt und wird anfangs schnell müde, gewöhnt sich jedoch schnell an die neue Routine und die Sprache in den Zeitungen. Zwischendurch inspiziert Franz ebenfalls die verschiedenen Zigarren und erkennt mit Trsnjeks Hilfe die Unterschiede zwischen guten und schlechten Zigarren.

In der ersten Zeit wird Franz mit den Kunden vertraut, zu denen viele Stammkunden gehören. Die Trafik wurde Otto Trsnjek vom Invalidenentschädigungsgesetz zugesprochen, wodurch er sehr plötzlich in der Gegend aufgekreuzt ist. Nun prägt er Franz ein, wie wichtig es sei, sich die Kunden sowie ihre individuellen Präferenzen zu merken. Eine der Stammkunden ist Frau Dr. Dr. Heinzl, die ihre Titel einzig ihren verstorbenen Ehemännern zu verdanken hat. Der erste Kunde eines jeden Tages ist der pensionierte Parlamentsdiener Kommerzialrat Ruskovetz mit seinem Dackel. Vormittags kommen stets die Arbeiter in die Trafik, mittags die Rentner und die Studenten und am frühen Nachmittag ein alter Mann namens Löwenstein. Anschließend erscheinen viele Hausfrauen, ebenso wie der Juristikar Kollerer. Unregelmäßig kommt weiterhin der Rote Egon, ein im Bezirk bekannter Spiegelsäufiger sowie Sozialdemokrat trotz Parteiverbot. Hinter der Verkaufstheke befindet sich eine unauffällige Schublade mit pornografischen Heften, welche Trsnjek nur auf besonderen Wunsch des Kunden hin öffnet.

Franz und seine Mutter haben die Abmachung getroffen, sich gegenseitig eine Karte in der Woche zu schreiben. Durch das Bild auf der Karte möchte sich die Mutter vorstellen können, wo ihr Sohn gerade ist. So werden kurze Belanglosigkeiten ausgetauscht, obwohl sie häufig lieber miteinander gesprochen hätten. Franz verstaut die Karten in seinem Nachtkästchen.

Als der Oktober hereinbricht, wird es kühler und windiger. Trotz der undurchsichtigen politischen Lage läuft das Geschäft der Trafik gut. Eines Vormittags betritt ein alter, eher kleiner Mann die Trafik. In gekrümmter Haltung stützt er sich auf einen Gehstock. Franz beobachtet die ungewöhnliche Wirkung des Mannes auf Otto Trsnjek. So versteht er schnell, dass es sich um einen richtigen Professor handelt, obwohl sich in Wien viele Menschen als Professor bezeichnen. Trsnjek stellt Franz kurz vor und erzählt, wo er herkommt, was der Professor mit einem Lächeln quittiert. Anschließend erzählt Trsnjek, dass der Mann Professor Sigmund Freud gewesen sei. Den Namen kann Franz zuordnen, der Professor ist bereits allseits berühmt und berüchtigt. Trsnjek erklärt, dass der Professor Menschen behandeln könne, ohne sie anzufassen, wodurch er sich von anderen Doktoren abhebt. Er ist überzeugt davon, dass Freuds Vorgehensweise funktioniert. Dennoch spricht er das Problem an, welchem der Professor ausgesetzt ist. Er ist ein Jude. Franz hinterfragt, inwiefern diese Tatsache ein Problem sei. Trsnjek erwidert daraufhin, dass die Beschaffenheit dieses Problems sich zeitnah zeigen werde.

In Franz' Heimat leben keine Juden, dort kursieren lediglich negativ behaftete Sagen. Franz sieht, dass Professor Freud seinen Hut in der Trafik vergessen hat und läuft ihm nach. Er nimmt wahr, dass der alte Mann leise und gepresst spricht, wobei er den Mund kaum öffnet. Widerwillig nimmt er Franz' Hilfe an und lässt sich Paket und Zeitungen von ihm abnehmen und nach Hause tragen. Auf dem Weg stellt Franz ihm Fragen zu seiner Tätigkeit. Freud erklärt die Möglichkeit, mentale Probleme erklären und beeinflussen zu können mit dem Reden über unangenehme Wahrheiten, wozu die Patienten auf seiner Couch angeregt werden. Franz möchte sich Zeit nehmen, um darüber nachzudenken. Statt seine Bücher zu lesen, rät Freud ihm, sich zu amüsieren und ein Mädchen kennenzulernen. Franz erklärt, dass sich Letzteres sehr schwierig gestalte und man in seiner Heimat nicht viel über die Liebe wisse. Freud erklärt daraufhin, dass man die Liebe nicht verstehen müsse, um sie zuzulassen.

Anschließend erzählt Franz seiner Mutter in einer Postkarte von dem Kennenlernen mit Sigmund Freud. Sie denkt zunächst, dass es ein Scherz ihres Sohnes ist und erklärt, nicht gewusst zu haben, dass er ein Jude sei. Diese Tatsache empfindet sie als nicht angenehm. Franz muss immer wieder an die Worte des Professors denken und beschließt, sich an einem Samstagabend auf den Weg Richtung Wiener Prater zu machen, um dort ein Mädchen kennenzulernen.

Analyse

Die gesamte Beschaffenheit der Trafik wird als eher beengt dargestellt. »Eingezwängt« (22) zwischen zwei weiteren Gebäuden liegt ein kleiner Verkaufsraum, welcher »bis unter die Decke vollgestopft« (22 f.) ist. Otto Trsnjek tritt etwas ruppig auf, nimmt sich jedoch die Zeit, Franz in das Geschäft einzuführen, wobei seine Leidenschaft für seinen Beruf deutlich wird. Um seinen engen Bezug zu den ausgelegten Zeitungen zu untermauern, setzt er sie mit Bekannten, Freunden und Familie gleich. Trsnjek definiert seine gesamte Identität über seinen Beruf: »Weil ich Trafikant bin. Weil ich Trafikant sein will. Und weil ich immer Trafikant sein werde« (24). Durch die Auswahl an guten Zigarren wird die kleine und beengte Trafik zu »einem Tempel sowohl des Geistes als auch des Genusses« (26). An dieser Stelle wird deutlich, wie Trsnjek die Trafik wahrnimmt und dass sie für ihn die nahezu heilige Bedeutung eines Gotteshauses hat. Weiterhin wird erneut ein politischer Bezug hergestellt, da er die Lieferengpässe der Zigarren als politisch verschuldet sieht. Vor diesem Hintergrund spricht er deutlich seine politischen Bedenken aus, wobei auf eine Alliteration zurückgegriffen wird: »Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt irgendwie zugrunde gerichtet« (27). Darüber hinaus stellt diese Aussage einen erneuten Hinweis auf die anstehenden politischen Entwicklungen dar.

Die Trafik wurde Trsnjek vor dem Hintergrund des Invalidenentschädigungsgesetzes zugesprochen. Es wird damit deutlich, in welcher Form Trsnjek bereits negative Erfahrungen mit der Politik und dem Krieg gemacht hat. Obwohl ihn die Bewohner nicht von klein auf kennen, hat sich die Trafik fest etabliert. Frau Dr. Dr. Heinzl steht stellvertretend für die eher extravaganten und stolzen Wiener. Generell scheint alles geregelte Abläufe zu haben, da die verschiedenen Gesellschaftsschichten die Trafik zu festen Zeiten aufsuchen. Die Personen werden demnach in feste Gruppen wie Arbeiter, Rentner, Studenten oder Hausfrauen, mit festgelegten Merkmalen und Eigenschaften eingeteilt. Diese Kategorisierung erinnert an die damalige Stigmatisierung der Juden, welche auch Franz vornimmt, ohne ihnen feindlich gegenüber eingestellt zu sein: »Echte Juden aus Fleisch und Blut, mit jüdischen Namen, jüdischen Hüten und jüdischen Nasen« (40).

Sowohl Otto Trsnjek als auch Franz' Mutter zeigen sich beklommen in Hinblick auf die Juden, ohne dies genauer zu erläutern: »Das ist vielleicht nicht angenehm, aber man muss halt schauen« (46). Genau wie Franz' Mutter verdeutlicht Trsnjek die aktuelle Ungewissheit, bezüglich des »unwesentlichen Problem[s]« (39), welches die Juden haben. Dieses wird sich erst durch ein Vergehen der Zeit klären: »Das wird sich noch herausstellen« (40). Franz beweist in dieser Hinsicht einen aufgeweckten Geist. Zwar neigt er zu Pauschalisierungen, adaptiert jedoch nicht das negative Bild der Juden, welches allseits vermittelt wird: »Diese Sache mit den Juden hatte er noch nicht richtig begriffen.« (ebd.)

Vor dem Hintergrund der pornografischen Magazine, welche Trsnjek in einer Schublade seiner Verkaufstheke versteckt, wird deutlich, dass er dazu bereit ist, für seine Kundschaft und für die Leidenschaft zu seinem Beruf Risiken einzugehen: »Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster!« (33). Darüber hinaus möchte er seinem Bild eines guten Trafikanten entsprechen, über welches er seine eigene Identität maßgeblich definiert.

Dem ersten Auftritt Sigmund Freuds wird ein zeitdeckender Abschnitt gewidmet. Weiterhin wird durch die Reaktion Trsnjeks deutlich, dass Freud zu einer zentralen Person innerhalb des vorliegenden Werkes werden wird. Franz fallen Besonderheiten in Hinblick auf das Sprechen und die Mimik Freuds auf, welche bereits bei seinem ersten Auftreten auf die gesundheitlichen Probleme des alten Mannes hinweisen. Als Franz erfährt, wer er ist, reagiert er zunächst mit einer eher abfälligen Etikettierung Freuds als »Deppendoktor« (38). Dieses Bild des Professors wird sich vermutlich durch kursierende Gerüchte in seiner Heimat entwickelt haben. Trsnjek versucht zu verdeutlichen, dass die Arbeit des Professors durchaus Effekte aufweist. Diese Auffassung erklärt sein verändertes und besonders höfliches Auftreten beim Eintreten Freuds.

Obwohl Freud die Hilfe von Franz eher widerwillig annimmt und auch sonst eher kühl auftritt, scheint er die Anwesenheit des Jungen zu genießen. Das Sprechen bereitet ihm sichtliche Schmerzen, welche ihn jedoch nicht davon abhalten, Franz Einblicke in seine Arbeit zu gewähren. Dass ihm der aufgeweckte Franz zeitweise auf die Nerven geht, verdeutlicht er durch ein wiederholtes Seufzen: »Eigentlich konnte er sich überhaupt nicht entsinnen, jemals in so kurzer Zeit so oft geseufzt zu haben« (43). Die Wirkung, welche die Person Sigmund Freud sowie seine Worte auf Franz haben, wird dadurch deutlich, dass er sich seine Bücher kaufen und sie alle lesen möchten. Ebenfalls nimmt er sich seinen Rat zu Herzen, ein Mädchen kennenzulernen. Voller Tatendrang richtet er sich her und bricht zum Wiener Prater auf, um sich dort der Liebe zu stellen.

Veröffentlicht am 12. Juni 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2023.