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Der Trafikant

Interpretationsansätze

Das Erwachsenwerden

Ein zentraler Aspekt des Romans ist das Erwachsenwerden des Protagonisten Franz Huchel. Heute auch häufig bekannt unter dem Genre »Coming-Of-Age«. Robert Seethaler bedient sich hier dem Vorbild bekannter Romane des 18. und 19. Jahrhunderts. Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1796), Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich« und auch Hermann Hesses »Das Glasperlenspiel« (1943) greifen die Thematik des Heranwachsens und die damit einhergehenden Herausforderungen auf. 

Geschildert werden auf der einen Seite die körperlichen und hormonellen Veränderungen, welche sich vor dem Hintergrund der Pubertät ereignen. Auf der anderen Seite spielt die Interaktion mit der unmittelbaren Umwelt eine zentrale Rolle. Die Protagonisten suchen ihren Platz in der Gesellschaft, lösen sich von den Eltern und treffen auf die erste große Liebe. Auch die berufliche Orientierung und ein zunehmendes Verantwortungsbewusstsein werden in  »Coming-Of-Age-Geschichten« thematisiert.

Franz Huchel erscheint zu Beginn des Romans als naiver und passiver Charakter. Er ist behütet aufgewachsen und ihm wurde bisher vieles von seiner Mutter abgenommen, wie folgende Textstelle verdeutlicht:

    Schon beim ersten fernen Donnergrollen war Franz in das kleine Fischerhaus gelaufen, das er und seine Mutter in dem Örtchen Nußdorf am Attersee bewohnten, und hatte sich tief ins Bett verkrochen, um in der Sicherheit seiner warmen Daunenhöhle dem unheimlichen Tosen zuzuhören (7).

Die entscheidende Veränderung in Franz' Leben, der Aufbruch nach Wien, wird von seiner Mutter eingeleitet. Es lässt sich davon ausgehen, dass er selbst nicht den Mut für diesen Schritt aufgebracht hätte. In Wien durchlebt Franz eine maßgebliche Persönlichkeitsentwicklung von einem passiven zu einem aktiven jungen Mann mit einem wachen Geist. Franz orientiert sich zunächst an Otto Trsnjek und Sigmund Freud, die ihm als Vorbilder dienen und als Ersatz für die Vaterrolle erscheinen.

Ebenfalls trifft er in Wien auf seine erste große Liebe, wodurch er mit einigen neuen Seiten seiner Persönlichkeit in Kontakt tritt. In dem letzten Teil des Romans ist Franz ganz auf sich allein gestellt und beweist Verantwortungsbewusstsein und Autonomie. 

Die Zeitungen, welche Franz in Wien regelmäßig liest, erweitern sein Wissen und seinen Wortschatz. Er ist fähig, die Inhalte kritisch zu hinterfragen und erkennt die Widersprüchlichkeiten, welche sich mit der Zeit einschleichen. Sein Erwachsenwerden spiegelt sich weiterhin in dem regelmäßigen Postverkehr mit seiner Mutter wider. Langsam vollzieht sich eine gesunde Ablösung, die der Protagonist an den Formulierungen der Mutter erkennt:

    Deine Mutter hatte sie geschrieben, und nicht Deine Mama, wie auf den Ansichtskarten oder wie früher immer, wenn sie auf dem Küchentisch eine hingekritzelte Nachricht hinterlassen hatte. Kinder haben Mamas, Männer haben Mütter (172).

Franz gewinnt zunehmend an Handlungskompetenz und nimmt eine klare Position im nationalsozialistischen Österreich ein. Er forscht hartnäckig nach dem Verbleib von Otto Trsnjek und übt aktiven Widerstand gegen das Regime.

Die politische Sicht

Der in Österreich erstarkende Nationalsozialismus nimmt in dem Roman von Robert Seethaler eine entscheidende Rolle ein. Der Autor greift historische Ereignisse auf, die er selbst nicht miterlebt hat. Dennoch sind die Verbrechen des Nationalsozialismus noch heute von großer Relevanz. Der Roman kann so als Appell an den kritischen Geist verstanden werden. Die Verbrechen des Nazi-Regimes werden aufgegriffen, um auch auf den Rechtsextremismus in der heutigen Zeit aufmerksam zu machen und gegen ihn vorzugehen.

Die Entwicklungen der Romanfiguren und alle zentralen Ereignisse innerhalb des Romans lassen sich unmittelbar auf die politische Lage zurückführen. Jede Romanfigur ist auf unterschiedliche Weise von den politischen Entwicklungen innerhalb Österreichs betroffen. Geschildert wird die Sicht eines Andersdenkenden (Otto Trsnjek), eines Juden (Sigmund Freud), einer illegalen Einwanderin (Anezka), eines Sozialisten (der Rote Egon) sowie eines Anhängers des Nazi-Regimes (Fleischermeister Roßhuber). Auch der Protagonist Franz Huchel übt letztlich aktiven Widerstand gegen das Regime. 

Insbesondere die zwei Anschläge auf die Trafik, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit von Fleischermeister Roßhuber verübt wurden, zeigen deutlich den Wandel im Verhalten der BürgerInnen Wiens auf. Die politischen Entwicklungen tragen ebenfalls einen entscheidenden Teil zu Franz' Persönlichkeitsentwicklung bei. Sensibilisiert von seinem Lehrmeister Otto Trsnjek, hinterfragt er das Gedankengut und die Machenschaften des Nazi-Regimes kritisch und kapselt sich so von der breiten Masse ab, die »Ahnungslosigkeit« und »Nichtwissen« (238), als sichere Option wählt, um im Österreich der Jahre 1938-1945 zu überleben.

Die Traumdeutung

Die im Roman etablierte Traumdeutung orientiert sich an dem realen Vorbild der von Sigmund Freud praktizierten Psychoanalyse. In seinem Buch »Die Traumdeutung« (1899), stellte Freud eine Theorie vor, die es ermöglicht, Zusammenhänge zwischen den eigenen Träumen und persönlichen Entwicklungen zu erfassen.

Die Träume des Protagonisten nehmen innerhalb des Romans eine zentrale Rolle ein. In ihnen wird die bildhafte Sprache Seethalers besonders deutlich und sie enthalten viele versteckte Hinweise. Sigmund Freud erteilt Franz den Ratschlag, seine Träume niederzuschreiben, jedoch werden sie von ihm zu keinem Zeitpunkt gelesen oder analysiert. Die restliche Außenwelt lässt Franz, aus einer empfundenen Einsamkeit heraus, an seiner Traumwelt teilhaben, indem er seine Traumnotizen an der Schaufensterscheibe der Trafik anbringt. 

Dem Leser ermöglichen die geschilderten Träume einen Einblick in Franz' Innenwelt, seine Ängste und Sehnsüchte. Es lässt sich ebenfalls die These aufstellen, dass die Auseinandersetzung mit seinen Träumen einen nicht unerheblichen Teil zu Franz' Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. Auf diese Weise erlangt er wertvolle Einblicke in sein Unterbewusstsein sowie die Fähigkeit der Selbstreflexion:

    In der Nacht aber, dachte er weiter, in den stillen, dunklen Stunden, sähe die Sache schon anders aus. Da stünde einem die eigene Vorsicht nicht mehr im Weg, und alle Ängste, Begehrlichkeiten, und Spinnereien könnten ungehemmt durchs Hirn geistern (174).
Veröffentlicht am 13. Juni 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2023.