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Der Trafikant

Abschnitt 9 (S. 197-237)

Zusammenfassung

Am Abend begibt sich Franz auf den Kahlenberg und versucht, einen kühlen Kopf zu bekommen. Er versinkt in seinen Gedanken und beobachtet das bewegte Treiben der Stadt, die er vollständig überblicken kann. Plötzlich spürt er ein Brennen auf der Haut, an den Stellen, wo er Anezkas Namen niedergeschrieben hat. Er springt auf und rennt zurück in die Stadt.

Außer Atem erreicht er das Varieté, welches sein Programm geändert hat. Inzwischen werden dort Witze über Juden zum Besten gegeben. Im Publikum sitzen Mitglieder der SS. Franz trifft Anezka in ihrer Garderobe an. Er hält eine Ansprache über die verrückte Welt und bietet ihr an, mit ihm fortzugehen, wohin auch immer sie will, vielleicht sogar nach Böhmen oder in seine Heimat. Sie könnten heiraten und er könnte eine Trafik eröffnen. Ein Mann der SS tritt ein und Franz fordert diesen auf, sie in Ruhe zu lassen oder ihn mitzunehmen. Der Mann zeigt keine Reaktion, doch Anezka tritt zu ihm und schmiegt sich an ihn. Franz versteht diese Geste der Zuneigung und Anezka bestätigt seine Vermutung. Franz verlässt das Gebäude.

Der Briefträger hängt seinen Gedanken über die Veränderungen der letzten Zeit nach, während er den Weg von Freuds Haus zur Trafik zurücklegt. Er hinterfragt die Absichten Hitlers, den Umgang mit den Juden und die Überprüfung der Post. Bei der Trafik angekommen, teilt er Franz mit, dass der Professor das Land am nächsten Tag verlassen wolle.

Zum Abschied sucht Franz drei besondere Zigarren für Freud aus. Die Zivilen, welche vor dem Haus des Professors Stellung bezogen haben, weisen ihn jedoch ab. Heimlich gelingt es Franz, über die Kohlenrutsche in das Haus zu gelangen. Da er nun dreckig ist, gibt Anna Freud ihm eine ihrer Hosen.

Sigmund Freud liegt auf der Couch, die sonst für seine Patienten reserviert ist. Er nimmt die Zigarren entgegen und überredet Franz, mit ihm zu rauchen, worauf Franz' Körper mit Verwirrung reagiert. Er erzählt dem Professor von Trsnjeks Tod und den neuen Entwicklungen mit Anezka. Ebenfalls spricht er über seinen zurückliegenden Aufbruch nach Wien und das damit einhergehende Gefühl der Orientierungslosigkeit. Auch den Liebeskummer durch Anezka erwähnt er, den er nun fast überwunden hat. Dennoch ist seine innere Verwirrung größer denn je. Franz hofft, dass Freud nach Wien zurückkehren wird. Als er bemerkt, dass der Professor eingeschlafen ist, deckt er ihn zu und geht.

Die Erzählperspektive wechselt und Freuds Abreise wird geschildert. Am 4. Juni 1938 macht sich die Familie mit dem Orientexpress auf den Weg nach England, da Juden in Österreich nicht mehr sicher sind. Um die Abreise zu ermöglichen, musste die Familie eine sehr hohe »Reichsfluchtsteuer« (230) bezahlen. Jegliche organisatorischen Tätigkeiten hat Freuds Tochter Anna übernommen. Während des Einsteigens in den Zug bemerkt Anna Franz, der an die Wand gelehnt zu ihnen hinüber schaut.

Franz geht es wieder besser. Nachdem er das Haus der Freuds verlassen hatte, wurde er von Unterleibsschmerzen, Übelkeit und Halluzinationen geplagt. Am Bahnhof beobachtet er, wie Sigmund Freud mit Frau und Tochter die Stadt verlässt. Er bemerkt die Traurigkeit und Zerbrechlichkeit Freuds sowie die Fürsorglichkeit, mit der sich seine Tochter Anna um ihn kümmert. Franz denkt zurück an seine einstige Ankunft in Wien.

Analyse

Auf dem Kahlenberg nimmt Franz räumlich und gedanklich Abstand von den Geschehnissen in Wien. Die Käfer, welche sich auf dem Baumstamm, auf dem Franz sitzt, tummeln, stehen stellvertretend für die Bürger der Stadt. Aus Selbstschutz verschließen sie die Augen vor den Ereignissen, doch Franz hat bereits zu viel gesehen, um dies ebenfalls zu tun.

    An einer Stelle krochen rote Käfer durcheinander, krabbelten unter ein fauliges Rindenstück, kamen wieder hervor, verschwanden wieder. Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, […] so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen (199).

Auch in der Zeitung, zu der er nach langer Zeit wieder gegriffen hat, konnte Franz nur »gedrucktes Geschrei« (ebd.) ausmachen, wodurch die allgemeine Unruhe und ständige Widersprüchlichkeit in den Printmedien verdeutlicht wird. Die Schmerzen und der Fokus auf Anezka befreien Franz von seinen Gedanken.

Selbst im Varieté werden die allgegenwärtigen Veränderungen deutlich, nun wird nur noch über Judenwitze gelacht und im Publikum sitzen Männer der SS. Der Monolog, mit dem Franz versucht, Anezka für eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen, verdeutlicht seine angestaute Verzweiflung und die Ungewissheit der Zukunft, welche er vor sich sieht. Vor dem SS-Mann beweist er erneut seinen neu errungenen Mut, indem er diesen auffordert, zu gehen. Jedoch lässt sich die Beziehung der beiden aus Anezkas Körpersprache entnehmen, ohne, dass es ausgesprochen wird: »Dann trat sie an ihn heran, umfasste mit beiden Armen seinen Oberkörper, schmiegte sich an ihn und legte ihre Wange an seine Schulter [...]« (208). Ihr vorheriges Seufzen bietet einen Hinweis darauf, dass es ihr schwerfällt, Franz zu enttäuschen und die Beziehung zu dem SS-Mann zu offenbaren. Franz reagiert mit Wut und Schmerz, ist jedoch bemüht, seinen Emotionen keinen Ausdruck zu verleihen. Der »gedämpfte Applaus« (209), welchen Franz während seines Fortgehens wahrnimmt, unterstreicht den endgültigen Abschied von Anezka.

Die Gedanken des Postboten stehen stellvertretend für die der Bürger Wiens. Alleine für sich hinterfragt er die aktuellen Geschehnisse, versucht diese jedoch für seinen Seelenfrieden zu rechtfertigen und sich schön zu reden: »Wenn nämlich der Führer nicht wüsste, was er macht, wäre er schließlich kein Führer, sondern allerhöchstens Bürgermeister oder Gemeinderatsvorsitzender [...]« (210).

Die Nachricht, dass Freud Wien verlassen wird, erschüttert Franz zutiefst, wie äußerst anschaulich beschrieben wird: »Etwas Ungutes stieg ihm in den Hals, propfte sich dort für einen Augenblick fest, bevor es weiter hinaufstieg, sich irgendwo hinter den Augen ausweitete und seinen ganzen Kopf zu füllen schien« (212). Der Professor hat versucht, möglichst lange in seiner Heimatstadt auszuharren, die Wortwahl: »Und als Jud auf der einen Seite und als Professor auf der anderen wird er sich halt gedacht haben: Bevor es endgültig ungemütlich wird, geh ich lieber!« (ebd.), verdeutlicht die zugespitzte Lage.

Auch die Tatsache, dass Franz der letzte Besuch bei Freud derart erschwert wird und er sich letztlich auch im übertragenen Sinne »schmutzig« (217) machen muss, um in dessen Haus zu gelangen, unterstreicht diese. Weiterhin wird durch Franz' riskantes Verhalten sein Mut und sein wacher Geist sichtbar. Der Professor leidet sichtlich unter den gegenwärtigen Entwicklungen: »Die Stimme des Professors hatte sich endgültig in das brüchige Knarzen eines morschen Astes verwandelt« (218). Er nennt Franz erstmals »Freund« (220) und bestätigt damit die gegenseitige Verbindung, die auch Franz immer wieder beteuert. Auch das Teilen der Zigarren untermauert die Freundschaft der beiden Figuren. Franz redet so viel, dass er nicht merkt, wie der Professor einschläft: »Es kam ihm vor, als hätte er noch nie in seinem Leben so viel geredet« (228). Es wird der Eindruck erweckt, dass sich in Franz' Gefühlswelt einiges angestaut hat, was er sich von der Seele reden möchte: »Noch nie in seinem Leben hatte er sich so müde und schwer gefühlt« (229).

Während seiner Abreise identifiziert sich Freud mit den materiellen Gütern, die die Familie nach England begleiten: »Nur unnützer Ballast auf der letzten Strecke eines langen Weges« (231). Er wirkt kraftlos und scheint den Sinn der Flucht in Frage zu stellen, da er nicht davon ausgeht, noch lange zu leben. Anna Freud vollzieht einen Rollentausch mit ihren Eltern. Sie organisiert alles, tröstet ihre Eltern und bleibt stets gefasst: »Anna reichte ihr ein Taschentuch, streichelte ihr über den Kopf und bedeutet ihr dann unmissverständlich, sich zusammenzureißen und weiterzugehen« (ebd.).

Nachdem Franz' Belastung so stark wurde, dass er unter psychosomatischen Symptomen zusammengebrochen ist, geht es ihm langsam wieder besser. Dennoch wirkt er stets schwach und überlastet: »Mit dem tapsigen Gang eines Hundewelpen bewegte er sich durch den Hausflur, wobei er sich für einen Moment im Stollen des alten Salzbergbaus verloren glaubte [...]« (233). Franz denkt zurück an seine Ankunft in Wien, die nun schon »ein Jahr? Ein halbes Leben? Ein ganzes?« (236) zurückliegt. Es wird deutlich, wie viel in dieser Zeit passiert ist, sodass es ihm wie ein ganzes Leben vorkommt und er sich selbst wie ein anderer Mensch. Sowohl die Welt, als auch seine Persönlichkeit haben sich seit diesem Zeitpunkt gravierend verändert. Franz denkt an sich selbst als naiven und hoffnungsvollen Jungen zurück: »Er musste über sich selbst lachen, über diesen komischen Buben, der hier seinerzeit an der Laterne gehangen hatte, mit dem harzigen Waldgeruch in den Haaren, einem Batzen Dreck an den Schuhen und ein paar verdrehten Hoffnungen hinter der Stirn« (236). Otto Trsnjek und Sigmund Freud sind nun fort, stattdessen ist die Präsenz der Nazis allgegenwärtig.

Veröffentlicht am 13. Juni 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2023.