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Frühlings Erwachen

Historischer Hintergrund und Epoche

»Frühlings Erwachen« erschien kurz vor der Jahrhundertwende 1900. Es lässt sich auf eine große und uneinheitliche literarische Vielfalt dieser Zeit blicken. So bestand noch immer der poetische Realismus, u.a. vertreten von Theodor Fontane. Hugo von Hofmannsthal wiederum veröffentlichte mit seinem Werk »Gestern«, ein Theaterstück, das sich bereits dem Ästhetizismus und Symbolismus zuordnen lässt. Die Epoche kann als »Fin de Siecle« (»aus dem Französischen für Ende des Jahrhunderts«) bezeichnet werden (vgl. Florack 1997: 329). 

Die Diskussion der jugendlichen Sexualität lässt sich dabei durchaus der Stilrichtung des Naturalismus zuordnen, die von exakten Beobachtungen und der Darstellung akuter gesellschaftlicher Probleme lebt. Auch das von Gerhart Hauptmann veröffentlichte Familiendrama »Einsame Menschen« ist dem Naturalismus zugehörig. Wedekind stellt in seinem Drama die damalige Realität rund um die moralischen Zwänge realistisch und ungeschönt dar. Die letzte Szene des Werkes lässt jedoch die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen, wodurch es sich dieser literarischen Strömung nicht eindeutig zuordnen lässt. 

In jedem Fall lädt das Werk dazu ein, die damaligen Tabuthemen zu diskutieren. Die Zensur, die auf die Veröffentlichung folgte, zeigt jedoch, dass die Öffentlichkeit noch nicht bereit für die Fortschrittlichkeit Wedekinds war. Das Drama erschien im wilhelminischen Zeitalter (1890-1914), welches von den unrealistischen Ansprüchen Kaiser Wilhelms II. hinsichtlich Disziplin und Selbstkontrolle geprägt war (vgl. Florack 1997: 330f.). »Frühlings Erwachen« wurde als hoch skandalös betrachtet, wodurch deutlich wird, dass der im Werk geschilderte Zwang zu Sittlichkeit und Moral in der damaligen Zeit Realität war. Es herrschte der Standard einer autoritären Erziehung, die auf die pubertären Jugendlichen eine schädigende Wirkung hatte, die Wedekind erkannte. Eigenständigkeit, kritisches Denken und Sexualität wurden streng unterdrückt. Stattdessen mussten sich die Jugendlichen anpassen und sittsam verhalten. Junge Menschen wurden unter Druck gesetzt und mitunter hart bestraft.

Die Uraufführung des Theaterstückes fand letztlich über sechs Jahre in einer von den Behörden zensierten Form statt. Sexuelle Ausdrücke wurden herausgeschnitten und besonders anstößige Szenen gekürzt oder geändert. Die Szenen, in welchen die jugendliche Nebenfigur Hänschen Rilow im Fokus steht, wurden vollständig entfernt. Eine Abänderung dieser Art erschien leicht, da die Szenen nicht zum Hauptstrang der Handlung gehören. Für die Werte und Normen der damaligen Zeit waren die thematisierten Inhalte der Masturbation und Homosexualität zu anstößig (vgl. Finck 2014). 

Für eine weitere kontextuelle Einordnung ist die Erwähnung autobiografischer Einflüsse unerlässlich. Wedekind selbst gab an, innerhalb des Dramas die eigene Schulzeit auf einem Gymnasium zu verarbeiten. Der Autor wurde während dieser Zeit wiederholt mit den Selbstmorden von Mitschülern konfrontiert, darunter dem seines Freundes Moritz Dürr (vgl. Meier 1998: S. 94). Zur Zeit der Jahrhundertwende war der durch die Schule bedingte Leidensdruck Jugendlicher ein großes Thema, welches unter anderem auch in Max Halbes Drama »Jugend« (1893) aufgegriffen wird. 

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.