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Frühlings Erwachen

Interpretationsansätze

Deutung vor einem gesellschaftskritischen Hintergrund

Das Drama Wedekinds übt bewusst Provokation, um gesellschaftliche Missstände punktuell aufzuzeigen. Sexualität war zur Entstehungszeit des Dramas ein Tabuthema, über das nicht gesprochen werden durfte. Von jungen Menschen wurde eine Enthaltsamkeit bis zur Hochzeit erwartet, der Fokus sollte auf schulischen Leistungen liegen.

Da auch die Erwachsenen durch ihre eigene Erziehung und vermittelte Normvorstellungen zu wilhelminischen Zeiten stark geprägt waren, konnten sie jüngeren Personen kein gutes Vorbild sein. Die Erziehung Jugendlicher basierte maßgeblich auf der Unterdrückung sexueller und demnach natürlicher Triebe. Der Kulturhistoriker Eduard Fuchs schreibt über das wilhelminische Zeitalter, dass die geschlechtliche Inhalte in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutiert werden durften:

»Ja, selbst ernste Unterhaltungen über geschlechtliche Fragen werden peinlich gemieden; und mit einer Frau über solche zu reden, gilt geradezu als taktlos. Eine anständige Frau weiß offiziell von solchen Dingen nichts« (Fuchs 2012: 116).

Üblich waren Lügengeschichten mit einer fragwürdigen Moral, um Jugendliche von sexuellen Praktiken abzuhalten. Insbesondere Mädchen sollten aufgrund der herrschenden Geschlechterdifferenz im Dunkeln gelassen werden und ein realitätsfernes Bild der sittsamen Frau verkörpern. Dementsprechend war es zu dieser Zeit nicht üblich, Jugendliche adäquat aufzuklären. Die Folgen beleuchtet Wedekind in seinem Werk. Aus sexueller Unwissenheit konnten und können noch immer schnell ungewollte Schwangerschaften resultieren. Da diese jedoch das gesellschaftliche Ansehen gefährdeten, wurde wie in Wendlas Fall zu Abtreibungen gegriffen. Zur damaligen Zeit waren Eingriffe dieser Art mit hohen Risiken verbunden, die für junge Frauen nicht selten den Tod bedeuteten (vgl. Seidler 1993: 132).

Wedekind thematisiert in seinem Werk sämtliche Bereiche, die von der Gesellschaft als anstößig empfunden werden. Er wirft ihr so Starrsinn, Egoismus und fehlende Reflexion vor. Auch die Thematik der Homosexualität verfolgt das Ziel, die Leserschaft zu einer Auseinandersetzung mit limitierenden Werten und Normen zu bewegen. Wedekind zeigt auf, dass nicht Sex, Homosexualität, Masturbation oder schlechte Schulleistungen die Problematik sind, sondern die Reaktion der Gesellschaft auf diese Themen. Denn die Tragödien des Dramas (Moritz' Selbstmord, Wendlas Schwangerschaft und Tod), resultieren einzig aus dem Verhalten der Erwachsenen. Diese gedanklichen Anstöße sollen im Optimalfall dazu führen, starre Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral zu bemerken und zu hinterfragen. Wie bereits die Titelinterpretation zulässt, soll ein gesellschaftliches Erwachen erfolgen.

Psychologische Deutung

Auf besagte gesellschaftliche Zwänge folgt in »Frühlings Erwachen« ein erheblicher Leidensdruck. Aus psychologischer Sicht lassen sich sowohl bei Moritz als auch bei Melchior depressive Tendenzen erkennen. Beide offenbaren durch ihre Sprache eine düstere, pessimistische Weltanschauung. Beide Protagonisten sind von einer scheinbaren Sinnlosigkeit des Lebens belastet. Melchior stellt sich selbst als überzeugten Atheisten dar, was zur damaligen Zeit eher unüblich war. In den Menschen kann er nur einen fest verwurzelten Egoismus erkennen, keine Nächstenliebe: »Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit!« (1,5). 

Seine Auffassungen lassen sich mit der damaligen Erziehung erklären. Da die Erwachsenen das gesellschaftliche Ansehen in den Fokus rückten, waren die Bedürfnisse ihrer Kinder zweitrangig. Moritz, der weniger Wissbegierde und Antrieb ausstrahlt, als Melchior, wird von psychischem Leid und fehlenden Sinn letztlich in den Selbstmord getrieben. Wedekind greift so neben sexuellen Aspekten ebenfalls das Tabuthema psychischer Erkrankungen auf. Dieses hatte während des auf Perfektion ausgerichteten wilhelminischen Zeitalters (vgl. Fuchs 2012: 116) im öffentlichen Raum keinen Platz. Wedekind zeigt, dass psychische Probleme überaus menschlich sind und ein Ignorieren dieser Tod und Verlust bedeuten kann. 

Auch der Masochismus Wendlas lässt sich aus psychologischer Sicht deuten. Sigmund Freud erklärt vor dem Hintergrund der von ihm begründeten Psychoanalyse den Masochismus als Konflikt zwischen dem Über-Ich und dem Ich. Die moralischen Maßstäbe (repräsentiert vom Über-Ich) kommen demnach nicht mit der Realität (repräsentiert vom Ich) überein. Da externe Erwartungen nicht erfüllt werden können, kommt es zu einem Strafbedürfnis gegenüber der eigenen Person. Darüber hinaus zeigt sich ein unterdrücktes sexuelles Verlangen (vgl. Theis 2000: 67). Die Struktur dieses psychologischen Phänomens ist verwandt mit dem Ödipuskomplex, was auf Wendlas verstrickte Beziehung zu ihrer Mutter hinweist. Die mangelnde Abgrenzung von den Eltern und ihren Normvorstellungen kann zu erheblichen psychischen Problemen führen, da eine Emanzipation im Jugendalter biologisch vorgesehen ist (vgl. Theis  2000: 19). 

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.