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Frühlings Erwachen

Sprache und Stil

Da es sich bei »Frühlings Erwachen« um ein Theaterstück handelt, lassen sich einzig die Sprache der Figuren sowie Namensgebungen und Regieanweisungen untersuchen. Wedekind ist es gelungen, einen Stil zu wählen, der eine implizite Gesellschaftskritik über die Sprache der Figuren übt. Die zahlreichen Monologe innerhalb des Dramas ermöglichen darüber hinaus tiefere Einblicke in die Innenwelt der einzelnen Figuren. 

Besonders sticht das Bildungsvokabular der Charaktere hervor, welches sich mit dem herrschenden Bildungszwang erklären lässt. Gehorsam und eine gute Bildung werden vorausgesetzt, um gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Diese muss sich demnach auch über die Sprache verdient werden. 

Das Stück ist durchzogen von geschichtlichen und biblischen Anspielungen, die auch auf die streng christliche Erziehung der Figuren hinweisen. In dem Monolog in der Nacht seines Suizids baut Moritz sprachlich ein Menschenopfer-Ritual des antiken Roms ein, diese Allusion setzt ebenso eine gebildete Leserschaft voraus: »Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im alten Etruien, dessen letztes Röcheln der Brüder Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft« (2,7.) 

Die Bildungssprache wird den Jugendlichen derart eingebläut, dass sie diese selbst untereinander oder beim Onanieren nicht ablegen können: »Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, Holde – contemplativ des Kommenden gewärtig, wie in dem süßen Augenblick aufkeimender Glückseligkeit [...]« (2,3). Besonders dieser Monolog von Hänschen Rilow, der ansonsten aus der Handlung gerissen scheint, enthält etwaige Hinweise auf die geistige Verwirrung durch die äußeren leistungsspezifischen Erwartungen. Den Jugendlichen gelingt es demnach nicht, sich über die Sprache von den Erwachsenen abzugrenzen. Auf diese Weise geht ein wichtiges Instrument für die Emanzipation und Autonomieentwicklung im Jugendalter verloren. Zentrale Konflikte des Werkes (z.B. zwischen Wendla und Frau Bergmann sowie Melchior und Frau Gabor), basieren auf einer Abgrenzungsproblematik. Wendla unterwirft sich der Autorität ihrer Mutter, Frau Gabor wiederum lehnt ihren Sohn ab, nachdem er sich durch die ersten sexuellen Erfahrungen von ihr abgrenzt. 

Trotz des allgemein verwendeten Bildungsvokabulars gelingt es Wedekind, jeder Figur eine ganz eigene Sprache zu verleihen. Hänschens Sprache ist in besagtem Monolog durchzogen von Humor und Komik. Moritz transportiert über seine Sprache seine Sensibilität und seine Empfindungen: »Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins Freie. - Ich gebe nicht soviel darum, mich herumdrücken zu lassen. Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen!« (2,7). Melchiors Sprache hingegen ist von einer besonderen Sachlichkeit und vielen mythologischen oder literarischen Anspielungen geprägt, z. B.: »Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin verlassen haben er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar« (2,1). 

Generell arbeitet der Autor mit einer sehr bildhaften Sprache, wie sich z.B. in dem letzten Zitat erkennen lässt. Moritz schließt die metaphorische Tür des Lebens hinter sich (vgl. 2,7). Diese Formulierung kann ebenfalls als Euphemismus gesehen werden, da sie die Tat des Selbstmordes beschönigt.  

Wedekinds Kritik an der Schulinstanz wird nicht nur in Form der erzwungenen Bildungssprache deutlich. Ebenfalls werden die Vertreter dieser Instanz, das Lehrerkollegium, in der ersten Szene des dritten Aktes nahezu ins Lächerliche gezogen. Sie finden Verwendung als eine Karikatur der Institution Schule, die sie vertreten. Deutlich wird dies insbesondere an der grotesken Namensgebung, aber auch an der Sprechweise, wie dem Gestammel Zungenschlags: »Es herrscht hier nämlich eine A-A-Atmosphäre wie in den unterirdischen Kata-Katakomben der ewigen Stadt – wie unter den Bleidächern Ve-Ve-Ve-Venedigs [...]« (3,1), oder den umständlichen Formulierungen. Der Autor unterstellt auf diese Weise, dass der zwanghafte Fokus auf die schulische Bildung sowie die kaltherzige Prioritätensetzung der Lehrerschaft verwerflich sind.

Zuletzt ist im Hinblick auf die Sprache wichtig zu erwähnen, dass einige Ausdrücke innerhalb des Werkes veraltet sind oder inzwischen eine andere Bedeutung haben. Das Wort »promovirt« (1,4) beispielsweise bedeutete zur Entstehungszeit die Versetzung in die nächste Klasse. Heute bedeutet es das Erlangen eines Doktortitels. 

Zentrale Motive, die immer wieder aufgegriffen werden und das ganze Werk begleiten, sind der dargestellte Bildungszwang und der Selbstmord, welcher stets mit einem Leidensdruck einhergeht, der auf den moralischen Zwängen der Gesellschaft basiert. Darüber hinaus lässt sich das Motiv des Tabuthemas herauskristallisieren. Dem Autor gelingt es, sämtliche tabuisierte Bereiche wie (Homo-)Sexualität, uneheliche Schwangerschaften und Suizid aufzugreifen. Mit diesen Leitmotiven übt Wedekind eine Gesellschaftskritik und versucht, bestehende Missstände aufzuzeigen. Die Moral des Dramas soll demnach sein, Jugendliche von dem gesellschaftlichen Moralzwang zu befreien. 

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.