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Corpus Delicti

Interpretation

Ein politischer Roman

»Corpus Delicti« zeichnet das Bild einer Diktatur, die Gesundheit als oberste Norm definiert, welcher nicht nur jede*r Einzelne, sondern auch Gesellschaft, Politik und Recht unterliegen. Das Allgemeinwohl stellt sich in Hinblick auf eine perfekte und von Krankheit befreite Bevölkerung über die Interessen des Individuums. Andersdenkende werden als »krank« bezeichnet und gelten unter den Richtlinien der METHODE als Gefahr und Feind. Somit besteht keine Duldung von Widerspruch. Die METHODE kann demnach als faschistische Ideologie verstanden werden. Kontrolle und Überwachung werden unter dem Deckmantel von Gesundheit und Bevölkerungsschutz genutzt, um das System aufrechtzuerhalten. Dies zeigt sich zum Beispiel in dem Chip, den jede Person im Oberarm trägt, sowie den Meldepflichten oder die Strafe bei Missachtung dieser Pflicht.

Massenmedien unterstützen die Ideologie mit Titeln wie DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND oder WAS ALLE DENKEN und kreieren ein Gemeinschaftsgefühl. Während sich das System mit Unfehlbarkeit und Fortschrittlichkeit schmückt, greift es dennoch auf unmenschliche und mittelalterliche Maßnahmen wie Folter zurück. Die Abschaffung der Todesstrafe wird als humanitärer Fortschritt dokumentiert. Jedoch ist diese lediglich dem Einfrieren auf unbestimmte Zeit gewichen, mit welchem sich der oder die Verurteilte vollkommen dem System übergibt.

Mia beginnt nach dem Tod ihres Bruders ihr Leben und Dasein zu hinterfragen und auf ihre individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Dies erfolgt zunächst mit ihrem Wunsch nach Ruhe, später in ihrer öffentlichen Proklamation. Zu diesem kritischen Hinterfragen will die Autorin aufrufen. Als politischer Roman macht »Corpus Delicti« auf den Verlust von Bürgerrechten gepaart mit der Zunahme an staatlichen Kontrollen aufmerksam. Das Bedürfnis, über dieses Thema zu schreiben, ereilte Zeh nicht nur durch Terroranschläge wie 9/11 und daraus resultierte Verschärfungen von Sicherheitskontrollen. Zeh sieht eine aufkommende Gefahr auch darin, dass entsprechende Kontrollen zunehmen und durch andere Sachverhalte legitimiert werden könnten. In einem Interview mit der »Zeit« formulierte sie 2010: »Aber was, wenn das Virus ein wenig mutiert und plötzlich die Abteilung Terrorismus verlässt?« (Möbius, 99). 

Auch die rasante Entwicklung der Digitalisierung oder Diskussionen über die Abschaffung von Bargeld, welche mit einem immensen Datenpool über jede*n Nutzer*in in deren Intimität eingreift, erachtet Zeh als besorgniserregend. Die Autorin fordert darum zum Selbstbewusstsein für das eigene selbstbestimmte Leben sowie zu einem gesunden Misstrauen und zur Beteiligung an politischen Diskussionen auf. Diese bilden für Zeh die Basis einer Demokratie, die von der Bevölkerung gestaltet wird (Möbius, 102f.).

Die Corona-Pandemie bewies 2020/21 die Aktualität der Thematik bezüglich der Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems unter dem Eingriff in die persönliche Freiheit (Leis und Alan, 93).

Ein Science-Fiction-Roman

»Corpus Delicti« zählt als Science-Fiction-Roman. Das bedeutet, er behandelt ein in der Zukunft spielendes Szenario, das dabei logisch, wissenschaftlich und rational erscheint. Des Weiteren zeigen sich Züge einer Utopie, also einem idealen, unerreichbaren Gesellschaftszustand. In »Corpus Delicti« gibt es keine Krankheiten, Menschen wachsen auf, ohne Leid zu erfahren. Alles ist sauber und nichts stinkt mehr. Diese Beschreibung klingt durchaus erstrebenswert. Hinter der Fassade steckt allerdings ein totalitäres Kontrollsystem, welches den Bürger*innen Privatsphäre und Selbstbestimmung entzieht. Daher erweist sich der Roman als negative Utopie, welche dann als Dystopie bezeichnet wird. Mias Scheitern im Kampf gegen die METHODE unterstreicht den dystopischen Charakter.

Dass die Handlung circa in der Mitte des 21. Jahrhunderts und damit in der Zukunft spielt, wurde von Juli Zeh bewusst gewählt. Sie möchte auf Tendenzen aufmerksam machen, in die sich eine Gesellschaft entwickeln könnte. Als Person im aktuellen Zeitgeschehen ist es meist schwer, Veränderungen wahrzunehmen, da sie schleichend eintreffen. Somit rät sie dazu, immer wieder bewusst Distanz zu schaffen (Möbius, 107).

Die METHODE bedient sich dabei an Grundsätzen historischer Strömungen. In der Aufklärung wurden die Menschen dazu aufgerufen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Vernunft und Rationalität sind ebenfalls Leitbilder der METHODE. Allerdings wird die Bevölkerung Opfer des übergeordneten Systems, das sie nicht hinterfragen und wenn doch, wird gegen sie vorgegangen. Dabei zeigt sich der mittelalterliche Bezug, der im Kontrast zu der angeblichen Fortschrittlichkeit steht. Mia wird als Hexe bezeichnet. Folterpraktiken und ihr Hang zum Märtyrertum unterstreichen die Parallelen. Mia vertritt die Meinung, dass sich die METHODE somit nicht von anderen Systemen unterscheide. Selbst ein in der Zukunft wirkendes System wird von Menschen konstruiert. Für die Leser*innen ist dies als Weckruf zu verstehen, die Vergangenheit zu reflektieren und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Zukunft durch ihr Handeln gestaltet werden kann.

Gesundheit im Zentrum in der Gesellschaft

Der Roman zeigt die überspitzte Darstellung einer Gesundheitsdiktatur. Durch das Fehlen von Glauben oder Religion rückt die Optimierung des Körpers in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Im Vorwort (vgl. 7f.) wird in der fiktiven Schrift Heinrich Kramers der Stellenwert von Gesundheit sowie dessen Ausweitung auf das reibungslose Funktionieren von Staat und Gesellschaft deutlich gemacht. Der Staat, oder genauer gesagt der Staatskörper, soll dabei genauso von fehlerlosen und störungsfreien Abläufen profitieren wie seine Bürger*innen. Widerstand gegen das System erhält den Geschmack von Krankheit, wird als Virus bezeichnet, den es auszurotten gilt (vgl. 201).

Dafür wird der Bevölkerung die persönliche Entscheidung über ihr Verhalten und den Umgang mit dem eigenen Körper entzogen. Stattdessen werden diese mit regelmäßigen Berichten über Schlaf, Training und Ernährung kontrolliert. Dabei scheint der Körper dem reinen Zweck zu dienen, wie sich auch in dem Buchzitat: »Der Körper ist eine Maschine, ein Fortbewegungs-, Nahrungsaufnahme- und Kommunikationsapparat« (79) widerspiegelt. Während der Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wird die psychische Gesundheit außer Acht gelassen. Emotionen werden unterdrückt. Vernunft und Rationalität gelten als einzige Orientierung.

Zeh sieht eine Gefahr in dieser Entwicklung, die Gesundheit als Norm erhebt und anderen Werten wie Liebe oder Solidarität dadurch Kraft entzieht. Der Umgang mit dem eigenen Körper unterliegt schnell äußeren Meinung, basierend auf Messwerten oder Fitnesstrends. Dabei sinkt die Bereitschaft, etwaige Risiken für den Einzelnen zu tragen, wenn sich dieser nicht an diesen Werten orientiert. Zeh warnt dabei vor einem selektiven System, das den Blick für das Menschliche und dessen Individualität verliert (Hondl, online). Dieser Verlust droht auch mit dem Idealbild des schlanken und durchtrainierten Körpers, der in der heutigen Gesellschaft mit Erfolg, Schönheit und Gesundheit gleichgesetzt wird (Leis und Alan, 75).

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.