Skip to main content

Corpus Delicti

Abschnitt 6

Zusammenfassung

Mia wird in ihrer Wohnung verhaftet. Anstatt sich selbst, scheint sie ein Sofakissen zu verteidigen, das sie im Arm hält. Nachbarin Driss will ihr helfen, bleibt jedoch ohne Erfolg.
In der Haft erkennt Mia ihren Bruder in sich selbst. Es gibt keine Anklage. Stattdessen wird sie aufgrund von Suizidgefahr festgehalten. Rosentreter berichtet Mia von den Erfolgen ihrer Veröffentlichung. Protestierende, der Moderator Würmer und die R.A.K. schlagen sich auf ihre Seite. Mia wird zu einer Leitfigur, welche die Zweifler aus ihren Verstecken lockt. Mit der R.A.K. will sie nichts zu tun haben, fürchtet sich aber auch nicht davor. In einer Fernsehansprache identifiziert Kramer Mia als Virus, welches das Immunsystem der METHODE, betrachtet man sie als Organismus, vernichten wird.

In ihrer trostlosen Zelle heißt Mia jeden Besucher willkommen, insbesondere Kramer, obwohl ihre Prinzipien komplett gegensätzlich sind. Sie diskutieren über die Frage nach dem Schuldigen und die Sympathie für die Schwachen. Kramer kommt Mias Bitte nach Möbeln und Essen entgegen. Dabei befragt er sie zu ihrem Bruder und zeichnet ihre Antworten auf. Anschließend eröffnet er ihr, dass Moritz in einer Widerstandsgruppe mitgewirkt haben soll, in welcher er auch Kontakt zu seinem Stammzellspender aufgenommen hätte. Er liest ein Geständnis für Mia vor, dass sie und Moritz als Täter und Terroristen darstellt. Mia reagiert wütend und glaubt ihm kein Wort. Erst will sie auf ihn losgehen, dann lässt sie sich gegen ihn sinken. Dennoch begegnet sie Kramer mit Abscheu. Dieser weist sie auf die Konsequenzen ihrer Entscheidungen hin, bevor er sie verlässt.

Der Richter Hutschneider sieht sich dem Fall »Mia Holl« nicht gewachsen. Seiner Vorgängerin Sophie wurde der Fall entzogen. Hutschneider stellt Mia den Kronzeugen »Niemand« vor, bei dem es sich um den Moderator Würmer handelt. Dieser gibt eine Aussage ab, die Kramers Geschichte entspricht. Mia versucht zu ihm durchzudringen, was Würmer nervös werden lässt. Außer ihr haben es alle eilig, die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Mia bezeichnet sich selbst als »Corpus Delicti«: das, was alle denken (vgl. 218).

Rosentreter muss Mia schlechte Nachrichten überbringen. Wie Hutschneider ist auch er mit der Situation überfordert. Er hasst Mia. So kann er den Misserfolg besser aushalten, für welchen er ihr die Schuld gibt. Ihre Klage wurde abgelehnt. Zusätzlich seien in Mias Wohnung Bakterienkulturen gefunden worden. Mia erkennt dahinter Kramers Inszenierung dank der Nahrung, die er ihr gereicht hat. Rosentreter will dagegen vorgehen, doch Mia bittet ihn, den Fall abzugeben. Rosentreter lehnt ab, obwohl er weiß, dass es aussichtslos ist. Er gibt zu, sich von seiner Freundin getrennt zu haben. Er war bezüglich seiner Ansichten aufrichtig zu ihr, doch sie sähe in Mia eine Terroristin. Mia beschreibt Rosentreters Lage misslicher als ihre eigene, was ihn sehr trifft. Dennoch schmuggelt er ihr einen langen Nagel zu, um welchen sie ihn im Vorfeld gebeten hat.

Analyse

Mia wird in ihrer Wohnung vom Methodenschutz verhaftet. Die Tatsache, dass deren Spezialisten jedes Schloss ohne Mühe öffnen können, zeigt, dass ihnen alle nötigen Mittel zur Verfügung stehen, um in die Privatsphäre der Bevölkerung vorzudringen. Dass sie beim Eindringen in Mias Wohnung absichtlich Lärm erzeugen, soll ein Exempel statuieren. Statt der »idealen Geliebten« hält sie nun ein Sofakissen im Arm. Ihre imaginäre Begleiterin ist verschwunden. Mia verteidigt das Kissen, als würde es sich dabei noch immer um sie handeln und wird dabei mit einer Löwenmutter verglichen. Das erweckt den Eindruck, dass die Wahrung von Moritz’ Gedankengut wichtiger ist als ihre eigene Person. Das gewaltsame und achtlose Vorgehen der Methodenschützer erklärt sich in den Worten: »Was sich hier abspielt, ist keine Verhaftung, sondern ein Krieg« (193) sowie »Die Uniformierten steigen über [Driss] hinweg, als sie Mia aus der Tür tragen« (194).

Mit der ellipsenhaften Bestandsaufnahme: »Papieranzug, Isolationshaft, zerschlagenes Gesicht« (195) und ihrem Blick in den Spiegel erkennt Mia, wie nah sie ihrem Bruder gekommen ist. Rosentreter deutet Mias Inhaftierung als Schwäche der METHODE. Das Wort »Selbstmordattentäter« wird als unkontrollierbare Bedrohung wahrgenommen. Mia bezeichnet sich als »Freiheitsstatue, geformt aus Fleisch und Knochen« (198) und damit als Symbol für eine neue Bewegung, eine Galionsfigur, die die Skeptiker aus ihren Verstecken lockt.

In der Fernsehansprache Kramers wiederholt dieser die faschistischen Leitsätze der METHODE und unterstreicht damit seine Abneigung gegenüber Veränderung. Dass ein gutes Leben nur durch Sauberkeit und Sicherheit erfahren werden könne, und die Abwesenheit dieser zu Verunreinigung von sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft führen würde, projiziert das Bild einer »reinen« Gesellschaft, die von jeglicher »Verunreinigung« bewahrt werden müsse. Mia wird im Zuge dessen als ein Virus beschrieben, welches die Bevölkerung mit seinem Gedankengut infiziert und gegen das bedingungslos vorgegangen wird.

Die Autorin beschreibt Mias Zelle mit einer Aufzählung von Paradoxen (Scheinwidersprüchen), wie zum Beispiel: »Unter dem Fenster macht sich die Ermangelung einer Schlafstätte breit« (202), die ausdrücken, wie unwohl sich die Insassin in ihrer Zelle fühlt. Jeder Besucher ist ihr recht, insbesondere Heinrich Kramer. Er füllt die Leere, die sie dort erfährt. In ihrem Dialog stehen sie sich ebenbürtig gegenüber, jeder überzeugt von den eigenen Werten. Kramer will sich diesen Gegensatz zu Nutze machen und beschreibt ihn mit den Allegorien »Verstand gegen Gefühl. [...] Das männliche gegen das weibliche Prinzip« (203). Die von Mia angewandte Metapher, dass sie ihr Visier geöffnet habe, zeigt, dass ihr nicht mehr nach Kämpfen zu Mute ist (vgl. 204). Ihre Veröffentlichung hat bereits Wellen geschlagen. Stattdessen nimmt sie sich als Opfer der METHODE wahr.

Als Kramer ihrer Bitte nach Nahrung und Möbeln nachkommt, verfällt sie seiner manipulativen Art. Er wählt seine Reaktionen bewusst und knapp, zusätzlich täuscht er Empathie vor. Als deutlich wird, dass Kramer plant, diese Aussagen gegen Mia zu verwenden und sie darum bittet, die von ihm verfasste Stellungnahme zu unterschreiben, ist es mit ihrer Beherrschung vorbei. Zunächst will sie auf ihn losgehen. Ihr Kräftemessen findet in einem »stumme[n] Ringen« (210) statt. Als ob Mia ihre geringen Chancen absehen kann, lässt sie sich gegen Kramer sinken. Ihre Worte über den wunderbaren Geruch des Menschen (vgl. 210) zeigen ihr Bedürfnis nach Nähe. Doch gleich darauf erkennt sie, wem sie soeben nahe gekommen ist und geht zurück in den Verteidigungsmodus. Kramer rechtfertigt sein Handeln mit Ehrgefühl und der METHODE.

Hutschneider wird als erfolgreicher und angesehener Mann beschrieben. Der Fall »Mia Holl« erscheint ihm daher wie ein Dorn im Auge, dem er sich nicht gewachsen sieht. Seine Vorgängerin Sophie ist aufgrund ihrer emotionalen Schwäche an Mia gescheitert. Hutschneider ist gewillt, nicht denselben Fehler zu machen. Mias Anblick macht es ihm allerdings schwer. Diese weiß ihr Erscheinen einzusetzen. Indem sie Würmer direkt anspricht, ihr Mitleid zeigt und ihre Gefühle beschreibt, bilden ihre Worte einen klaren Kontrast zu den auswendig gelernten Bekundungen Würmers und der juristischen Dokumentation Hutschneiders. Mias wachsende Emotionalität macht die beiden nervös. Sie bezeichnet sich als »Corpus Delicti« (218). Der juristische Fachbegriff, welcher dem Roman auch seinen Titel gibt, steht für einen »Gegenstand (Werkzeug), mit dem eine Straftat, ein Verbrechen begangen worden ist und der dem Gericht als Beweisstück dient« (Duden). Gemeinsam mit der Aussage: »Ich stehe für das, was alle denken!« (218) erklärt sich Mia als Symbol für die Fehlerhaftigkeit der METHODE und den aufkommenden Widerstand.

Ähnlich wie Hutschneider vor ihm wird im folgenden Kapitel die Situation und das Empfinden Rosentreters beschrieben, der sich ebenfalls unwohl in seiner Position fühlt. Doch genauso wie Hutschneider ist er nicht in der Lage, den Fall jemand anderem zu überlassen. Mia begegnet ihm als Freundin. Seinen Bericht zu den neuen Anklagepunkten durchschaut sie sofort, bleibt aber trotzdem ruhig.

Die wachsende Beweislast, auch wenn sie inszeniert wurde, sowie das Ausbleiben der Protestierenden, lassen die Hoffnung für die Protagonistin und damit die Handlung weiter abfallen. Mia kann die Proteste in ihrem Inneren noch hören, als ob sie in ihr weiterleben würden. Ihre Bitte, Rosentreter möge den Fall abgeben, lehnt dieser ab. Er schafft es nicht, diesen Schritt zu gehen und sich eindeutig zu entscheiden. Er kann sich weder auf die Seite der Verbrecher noch auf die der Helden schlagen. Seine missliche, unentschlossene Meinung zu sich selbst wird verstärkt, als Mia ihre Lage besser einschätzt als die seine. Sie weiß, wofür sie gehandelt hat und muss sich vor niemandem mehr rechtfertigen. Die Übergabe des Nagels zeichnet eine Parallele zu Moritz und der Angelschnur.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.