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Corpus Delicti

Abschnitt 3

Zusammenfassung

Rosentreter stellt sich als Mias Strafverteidiger vor. Auch ihm ist Moritz’ Fall bekannt. Er behauptet, dass dieser sogar vom Methodenschutz beobachtet worden sei. Mia will dem keinen Glauben schenken, doch wird von Rosentreter gewarnt, sie könne an denselben Punkt gelangen. Er will für sie einstehen. Mia äußert hingegen erneut ihren Wunsch nach Ruhe. Auch die Nachbarinnen drängen ihre Hilfe auf, doch Mia weist sie ab.

Stattdessen versucht sie, ihren Alltag wieder aufzunehmen und dabei Moritz’ Gedanken zu integrieren, anstatt sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Die »ideale Geliebte« weist sie auf die Reichweite des Problems hin, welche Mia noch nicht sehen kann, und fordert sie zu einer Entscheidung auf.

Die »ideale Geliebte« schaut mit Mia ein Fernsehinterview, in dem Heinrich Kramer Aussagen zu der terroristischen Organisation R.A.K. - Recht auf Krankheit - äußert. Laut ihm gewinne die Organisation ihre Anhänger aus der normalen Bevölkerung, die ihre persönlichen Probleme auf das System projizieren und dieses in Frage stellen würden. Durch das lange Bestehen des Systems haben sie den Blick für dessen Notwendigkeit verloren. Kramer bezeichnet den Anti-Methodismus als Kriegserklärung, auf welche er genauso reagieren werde. Anhand seines gewählten Beispiels erscheint der Eindruck, als würde er von Mia sprechen.

Ein Rückblick zeigt einen Streit zwischen Mia und Moritz, als sie wieder gemeinsam Zeit am Fluss verbringen. Mia wirft ihm vor, egoistisch und feige zu sein, da er trotz seiner großen Reden auf einem Fundament der Sicherheit leben würde. Doch für Moritz ist genau diese Sicherheit ein Widersagen des Lebens. Nachdem er im Alter von sechs Jahren fast gestorben wäre, kann er das Leben richtig schätzen. Er erzählt von Sibylle, die seine Ansichten zu teilen scheint und von der er glaubt, sie könne »die Richtige« sein.

Rosentreter hat im Zuge von Mias Verteidigung einen Anfechtungsantrag gestellt. Bei der dafür vorgesehenen Anhörung gerät Richterin Sophie erneut außer sich, weil ihre milde Vorgehensweise nun in Frage gestellt wird. Sie muss sich eingestehen, Mia falsch eingeschätzt zu haben. Mia selbst weiß nicht, wie ihr geschieht. Ihr Strafverteidiger Rosentreter erklärt den Antrag auf Härtefallregelung mit Mias Verlust ihres Bruders und weist erneut auf ihre Bitte hin, in Ruhe gelassen zu werden. Sophie fühlt sich von den Bemerkungen ihrer Kollegen provoziert. Sie lehnt den Antrag daher ab und verurteilt Mia zu zwei Jahren auf Bewährung.

Analyse

Mias Strafverteidiger Lutz Rosentreter ist offensichtlich geehrt, ihr zugewiesen worden zu sein. Mia lässt sich davon nicht beeindrucken, seine nervöse Art ist ihr zuwider. »Unter normalen Umständen würde [sie] ihn hassen« (72), allerdings scheint sie sich in seiner Gegenwart zu entspannen, was darauf hinweist, wie weit sie sich bereits von ihrem früheren Ich entfernt hat. Seine Bemerkung, dass Moritz als Methodenfeind gegolten habe, lässt sie zwar aufhorchen, doch schenkt sie dem keinen Glauben. Während Rosentreter gegen das Strafmaß des Gerichts vorgehen will, beharrt Mia auf ihrem Wunsch nach Ruhe anstatt Angriff. Die Aussagen: »Die METHODE, das sind wir selbst. [...], die Vernunft. Der gesunde Menschenverstand. Ich wende mich nicht gegen die METHODE« (75) zeigen ihre Position zu diesem Zeitpunkt. Dennoch unterschreibt sie Rosentreters Antrag.

Das Aufdrängen der Nachbarinnen hat verschiedene Beweggründe. Während Driss verzweifelt ist, dass sie Mia in eine so missliche Lage gebracht hat, obwohl sie ihr nur helfen wollte, beharren Lizzie und die Pollsche auf den Gemeinschaftswert. In ihrem Kommentar, dass das Wächterhaus auch ein solches bleiben soll (vgl. 78) verbirgt sich jedoch ihr eigentliches Interesse, was weniger mit Mias Zustand, sondern mehr mit der Wahrung der Ordnung zu tun hat.

Mit dem Zitat: »Ihren Körper hat Mia nie geachtet oder geliebt« (79) wird deutlich, wie sich das Empfinden und Gefühl für das eigene Selbst sogar im Hinblick auf den Körper einem »reibungslosen Funktionieren« (79) unterordnen muss und letztlich in Vergessenheit gerät. Die Anzeige auf dem Hometrainer gilt als Richtwert, nicht das eigene Körpergefühl.

Während Mia versucht, ihren Pflichten gerecht zu werden, weist die »ideale Geliebte« sie auf die Tragweite der Thematik hin. Das Problem übersteigt Mia als Person, betrifft das ganze System und färbt so schlussendlich auf sie ab: »Was dich von innen vergiftet, ist die faule Stelle in der Mitte des Systems« (81). Mias Gedanke, dass hinter der Medienfigur Kramer eine ganz andere Person stecken könnte, bezeugt ihre Unentschlossenheit. Die »ideale Geliebte« macht sie darauf aufmerksam, so wie auf die Tatsache, dass sie sich entscheiden müsse.

In einem Interview mit dem Moderator Würmer berichtet Kramer von den Bedrohungen durch die R.A.K. Das Beispiel einer 34-jährigen, die das Phänomen Krankheit nicht kennt, ist bewusst gewählt und zielt auf Mia ab, die in diesem Alter ist. Er beruft sich dabei auf die Aufklärung, die von den Methodenfeinden allerdings missverstanden würde. Anstatt ihre persönlichen Probleme mit dem eigenen Verstand zu lösen, wie es der Leitsatz vorgeben würde, wälzen sie diese auf das System ab. Sie stellen das System also auf Grundlage ihrer individuellen Bedürfnisse in Frage. Die Balance zwischen dem allgemeinen und privaten Wohl gerate aus den Fugen. Kramer übt damit Kritik an den Menschen, die ihr persönliches Wohlbefinden dem der Gesellschaft überordnen und somit das allgemeine Wohl missachten würden. Gegner der METHODE werden damit in seinen Augen zu Zynikern, die ihre Mitmenschen verachten. Seine Einschätzung kann jedoch angefochten werden. Schließlich sollte, laut der Aufklärung, der Einsatz des Verstandes die Menschen befreien, ein Ziel, das die Widerstandskämpfer durchaus verfolgen.

Kramers gelassene Art, die direkte Anrede seiner Zuhörer mit: »Das sind Menschen wie du und ich« (85), sowie seine Verherrlichung des allgemeinen Wohls, stoßen auf positive Reaktionen im Publikum. Mit seinen letzten Worten macht Kramer deutlich, dass die METHODE nicht nur die Lösung aller Probleme und Unsicherheiten einer Gesellschaft sei, sondern jeder Widerstand als Kriegserklärung angesehen werde, den es entsprechend zu bekämpfen gilt. Damit rückt er das System in ein faschistisches Licht. Mit der Aussage der »idealen Geliebten« können Kramers Worte als Drohung an Mia verstanden werden: »Dein neuer Freund meint dich« (89).

Eben diesen Egoismus, den Heinrich Kramer den Methodengegnern zuschreibt, wirft Mia ihrem Bruder in einem zurückliegenden Streit vor. Zusätzlich bezeichnet sie ihn als feige, da er seine »angebliche Freiheit auf einem fest gemauerten Sicherheitsfundament« (93) auslebe. Moritz ist von diesem Vorwurf getroffen. Seine Worte offenbaren, dass er das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen erfahren will; dass er spüren will, anstatt vor sich hin zu vegetieren. Eine vollkommene Sicherheit würde ihm dieses Fühlen untersagen. Freiheit bedeutet für ihn außerdem, sich selbst für Leben oder Tod entscheiden zu können. Er beruft sich damit auf seine persönlichen Werte, Empfindung und Meinungen, die im Kontrast zum System der METHODE stehen und außerdem von diesem unterdrückt werden. Obwohl Mia Schwierigkeiten hat, seine Ansichten zu verstehen oder gar zu teilen, sind sich die Geschwister einander wichtig. Andernfalls würde Moritz nicht seine intimen Gedanken offenbaren, sowie seine Hoffnung auf das Blind Date mit Sibylle.

In der Gerichtsverhandlung wird Mia zum Spielball des Systems. Während Rosentreter versucht, mit ihr eine Anfechtung des Gerichtsverfahrens loszutreten, ist der Staatsanwalt Bell darauf aus, jede Aussage Mias gegen sie zu verwenden. Anstatt sich von der Vernunft leiten zu lassen, ist die Richterin Sophie in Rage. Die Bemerkungen Bells, die ihr bereits aus Studienzeiten vertraut sind, provozieren sie. Somit ist Sophie dazu verleitet, ihre Autorität unter Beweis stellen zu müssen. Die augenscheinliche Verwirrtheit Mias wird übersehen. Stattdessen trägt sich ein Machtspiel zu, in dem plötzlich die persönliche Inszenierung der einzelnen Beteiligten an Bedeutung gewinnt. In den Augen der Richterin setzt sich Mia dem Gesetz zur Wehr und missachtet die Milde, mit welcher sie ihr vorerst entgegengekommen ist. Sophie verhängt nun ein weitaus höheres Strafmaß von zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung. Zusätzlich wird der Methodenschutz eingeschaltet. Beleuchtet man den Aspekt, dass es sich bei der Straftat um das Rauchen einer Zigarette handelt, wird im Vergleich zum Leben in der heutigen Gesellschaft die Tragweite der fiktiven METHODE deutlich.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.