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Corpus Delicti

Abschnitt 4

Zusammenfassung

Rosentreter bringt Mia nach Hause. Diese will am liebsten aufgeben, doch Rosentreter plant, den Fall weiterzuverfolgen. Dabei macht er den Anschein, als ob er die METHODE ebenfalls in Frage stellt. Mia stellt ihn zur Rede, worauf Rosentreter bekennt, dass er eine Frau liebt, mit der er nicht genetisch kompatibel sei. Dies wird als Kapitalverbrechen angesehen und begründet seinen Kampf gegen die METHODE. Mia nimmt ihn nicht ernst. Nachdem er darum bittet, dass sie sich duzen können, schreit er Mia an, dass sie keine Ahnung habe. Mit einem Foto ihres erhängten Bruders geht sie zum Gegenangriff über. Daraufhin bietet Rosentreter an, er könne Moritz’ Fall wieder aufnehmen, um damit gegen die METHODE vorzugehen.

Die beiden werden von Heinrich Kramer unterbrochen. Er lässt Mia wissen, dass das geplante Interview aufgrund der letzten Entwicklungen nicht mehr stattfinden könne. Während Rosentreter von Kramer offensichtlich eingeschüchtert ist, zeigt sich eine gewisse Nähe zwischen Kramer und Mia. Obwohl Mia Rosentreter die Schuld an den kürzlichen Ereignissen gibt, verschweigt sie dessen Liebesgeständnis. Kramer möchte von Mia etwas über ihren Bruder erfahren und fordert auch Rosentreter bezüglich des Falls heraus.

Kramer will anhand des Falles »Moritz Holl« für die METHODE arbeiten, während Rosentreter darin seine Chance sieht, gegen das System vorzugehen. Mia steht dazwischen und sieht ihre Aufgabe schließlich in der Weitergabe von Moritz’ Erbe. Die »ideale Geliebte« warnt sie vor einem Fehltritt. Mia berichtet von Moritz’ Liebe zur Natur und zu seiner Schwester sowie von seiner Leukämieerkrankung. Durch die METHODE wurde er vollständig geheilt, sodass die Dokumentation aus den Akten gelöscht wurde. Die Heilung prägte Mias Überzeugung in das System. Kramer hat nun alles, was er braucht und bittet Mia, sie zitieren zu dürfen.

Mia erkennt eine wachsende Bewunderung für Kramer anhand seines Verhaltens, dem er sich vollkommen verschreibt. Doch genauso begegnet sie ihm mit Widerwillen und Abneigung. Die »ideale Geliebte« macht ihr diesbezüglich Vorwürfe und unterstellt ihr, sie sei weder eine Frau noch ein Mensch.

Ein Rückblick rekonstruiert den Moment, in dem Moritz Mia vom Fund der toten Sibylle erzählt. Mia sorgt sich um ihn, doch Moritz fühlt sich missverstanden.

Später wird Mia von ihren Nachbarinnen auf einen Zeitungsartikel hingewiesen, der sie zur Sorge veranlasst, den Wächterhaus-Status verlieren zu können. In dem Artikel wird Moritz als Terrorist dargestellt, was durch Mias Zitate untermauert wird. Die »ideale Geliebte« ahnt darin eine Gefahr für Mia, doch diese will davon nichts hören. Die »ideale Geliebte« forderte sie dann auf, ins Handeln zu kommen und sich zu Moritz zu bekennen. Mia steht zwischen den Fronten, wird dadurch zur Außenseiterin und angreifbar. Sie erkennt jedoch, dass die »ideale Geliebte« recht hat. Ihre sozialen Ängste gelten als Abnormalität, die sie hinter der Systemtreue und damit vor sich selbst versteckt.

Am Tag seiner Verhaftung sprach Moritz von der Ambivalenz im Leben und wie die Wahrung der Freiheit ein Spiel aus Anpassung und Widerstand erfordere. Mia erinnert sich daran, als sie nun, wie damals mit ihrem Bruder, am Fluss sitzt. Dort wird sie schließlich, wie schon Moritz vor ihr, festgenommen.

Analyse

Die Bemerkung der »idealen Geliebten«, Mia solle das Lied »Which side are you on?« zu ihrer Hymne machen, verweist auf den Protestsong von Florence Reece von 1931 (Möbius, 77). Die »ideale Geliebte« ruft Mia demzufolge zur Entscheidung und zum Protest auf. Diese ist hingegen in einer bleiernen Müdigkeit gefangen und will viel lieber aufgeben, anstatt Widerstand zu leisten. Sie bezeichnet Rosentreter als Folterknecht, der darauf hin den historischen Hintergrund der Folter erläutert. Damit wird Mias Folter antizipiert, welcher sie zu einem späteren Zeitpunkt ausgesetzt werden wird.

Rosentreter fordert Mia dazu auf, sich gegen die METHODE zu wehren. Seine Aussagen über den Geist, die Seele und das Herz eines Menschen, welche für die »METHODE [...] keine Rolle spielen« (108), seine Identifizierung als Mensch statt als Jurist (vgl. 109), nicht zuletzt aber seine leuchtenden Augen lassen Mia misstrauisch werden. Sie stellt ihn zur Rede. Rosentreter gesteht seine Liebe zu einer Frau, mit der er nicht genetisch kompatibel sei. Obwohl eine derartige Liebe vom vorherrschenden System geahndet wird, scheint ein Bewusstsein über alternative Liebschaften zu bestehen. Das zeigt sich in Mias Reaktion: »Bauerntöchter haben ihre Gutsherren geliebt. [...] Alles Unzulässigkeiten. [...], alles normal!« (113). Dennoch ist diese Liebe verboten. Die METHODE greift auch hier in die intimsten Gefühle und Entscheidungen der Menschen ein, unter dem Vorwand, glückliche Beziehungen und gesunde Nachkommen zu garantieren. Der eigentliche Zweck besteht jedoch in der Kontrolle. Mia nimmt Rosentreters Dilemma nicht ernst und bezeichnet sein Vorgehen als sinnlos. Dieser beschimpft Mia daraufhin als Rationalistin. Mit einem Bild ihres erhängten Bruders rechtfertigt sie, größeres Leid erfahren zu haben als Rosentreter.

Die beiden werden von Heinrich Kramer unterbrochen. Dessen selbstbewusstes und imposantes Auftreten, begleitet von seinem blendenden Aussehen, stehen nicht nur im Kontrast zu der Erscheinung Rosentreters, sie machen ihm auch Angst. Kramer verhält sich wie ein guter Freund, schenkt sich unaufgefordert Getränke ein und bietet Mia an, Rosentreter für sie loszuwerden. Dahinter verbirgt sich jedoch Manipulation und sein eigentliches Interesse, Informationen zu gewinnen. Erneut fällt der Name »Moritz Holl«, der sie alle miteinander zu verbinden scheint. Mia ist bereit, über ihn zu sprechen. Obwohl sie durch ihre Unentschlossenheit von einer Ohnmacht befallen ist, scheint sie mit der Weitergabe der Erinnerung an ihren Bruder einen Beitrag leisten zu können, der sie ein Stück von ihrer Handlungsunfähigkeit erlöst.

Kramers Worte: »Die Liebe zur Natur ist der Prolog zur Menschenliebe« (123) bekräftigt Mias Beschreibung und Moritz’ Liebe für das Leben mit all seinen Facetten. Doch genau darin sieht die METHODE eine Bedrohung. Kramer respektiert diese Naturverbundenheit jedoch, da von Kriechtieren nicht dieselbe Gefahr auszugehen scheint wie von Menschen. Demzufolge sind es die Menschen, die es zu kontrollieren gilt. Als Moritz’ Leukämie-Erkrankung zur Sprache kommt, hat sich »das Raumklima verändert« (125). Die fehlende Dokumentation sowie die angeblich vollständige Heilung des Erkrankten, die selbst von Heinrich Kramer in Frage gestellt wird, hinterlassen eine Spannung. Darin offenbart sich ein Puzzleteil, das bislang außer Acht gelassen wurde und die Handlung weiter ansteigen lässt.

Im Kapitel »Ambivalenz« zeigt Mia typisch menschliche Züge im Abwägen zweier Seiten bei der Positionierung zu einem Sachverhalt, oder in diesem Fall zu Heinrich Kramer. Mia ertappt sich bei dem Gedanken, dass sie ihn lieben könnte. Kramer selbst scheint diese Ambivalenz überwunden zu haben und sich in jeglicher Hinsicht einer Sache zu verschreiben. Genau das nimmt ihm jedoch die Menschlichkeit und die Möglichkeit, individuelle Entscheidungen zu treffen. Mia, die von Zerrissenheit geplagt ist, sehnt sich nach dieser Eindeutigkeit. Aufgrund ihrer Ambivalenz begegnet sie Kramer aber genauso mit Widerwillen. Die »ideale Geliebte« hat eine klare Meinung dazu und unterstreicht Kramers Entfernung vom Menschlichen, sowie Mias Entfremdung von sich selbst mit dem Ausdruck: »Aus dem gleichen Holz geschnitzt wie dein schlimmster Feind? Dann bist du kein Mensch« (128).

Mit der Beschreibung des schrillen Lautes der Klingel wird wieder eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen. Das Geräusch hält Mias Erinnerung wach, in der Moritz von Sibylles Tod erzählte und sie glaubte, ihm mit ihrer kühlen Rationalität eine Stütze zu sein. Als Moritz davonstürmte, fühlte es sich für sie so an, als würde sie ein Stück Zuhause verlieren. Obwohl Moritz sie als sein Zuhause bezeichnete, wird deutlich, dass er es auch für sie war. Mit dem Aufgebot ihrer Nachbarinnen vor ihrer Tür gerät dieses Zuhause erneut ins Wanken, diesmal auf physischer statt emotionaler Ebene. Die Frauen nehmen Mia als Gefahrenquelle wahr, begegnen ihr mit Abstand und Mundschutz und wollen sie am liebsten aus dem Haus vertreiben, um ihren Wächter-Status nicht zu verlieren. Hierbei wird das gegenseitige Misstrauen deutlich, das durch die METHODE geschürt wird. Lizzie und die Pollsche hinterfragen Mias Beweggründe nicht, sondern sehen sie als Bedrohung. Driss hält ihre Bewunderung für Mia nicht zurück und symbolisiert dabei die Flucht in eine kindliche Fantasie, der es ebenso an kritischer Hinterfragung mangelt.

Der Kommentar »Bedrohung verlangt Wachsamkeit« von Heinrich Kramer stellt Moritz Holl als Terroristen dar. Die schwierige Identifikation der Anhänger der R.A.K. durch ihre »Tarnung in alltäglichen Lebens- und Arbeitswelten« (138) schüren Angst und Panik in der Bevölkerung. Kramer ruft bewusst zum Misstrauen gegenüber den Mitbürger*innen auf: »Zivile Wachsamkeit ist gefragt. [...] Bürger, haltet die Augen offen!« (140). Kramers Kommentar beschreibt das Bild einer faschistischen Ideologie, die keinen Widerstand duldet und dessen Kontrolle so weit geht, dass sich selbst die Bevölkerung gegenseitig ausspionieren und verraten soll.

Nach diesem Kommentar fordert die »ideale Geliebte« Mia erneut zum Handeln auf. Sie macht Mias Angst deutlich, die der Grund für ihre Unentschlossenheit ist. Außerdem bezeichnet sie Mia als eine Hexe, die »[z]wischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, [...] Ja und Nein« (144) steht. Der Bezug zu Hexen und Mittelalter wird auch unter der Figur Heinrich Kramers deutlich. Ein unter demselben Namen bekannter Dominikanermönch veröffentlichte 1486 die Schrift »Hexenhammer«, die zur Hexenverfolgung aufrief (Möbius, 108). Ein ähnlicher Aufruf ist dem Kommentar des fiktiven Kramers aus »Corpus Delicti« entnehmbar. Als Hexe wird Mia zur Außenseiterin und begibt sich in Gefahr. Die Worte der »idealen Geliebten« sickern zu Mia durch und lassen sie hinterfragen. Sie erkennt ihr Anderssein in der Abneigung gegenüber ihren Mitmenschen. Doch anstatt dieses anzunehmen, versteckt sie es hinter Systemtreue und damit vor sich selbst. Ihre Ignoranz lässt sie sprichwörtlich zwischen den Stühlen stehen. Diese Erkenntnis ermöglicht ihr eine bis dahin unbekannte Nähe zu ihrem Bruder. Moritz hatte einen Weg gefunden, mit seiner Abnormalität umzugehen, indem er stetig zwischen Anpassung und Individualität wechselte. Die aufeinanderfolgenden Kapitel, in dem erst Moritz’ und anschließend Mias Verhaftung am selben Ort vollzogen wird, unterstreichen ihre wachsende Verbundenheit.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.