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Corpus Delicti

Abschnitt 5

Zusammenfassung

Mias Prozess wird eröffnet. Rosentreter ist sichtlich aufgeregt, doch er scheint zuversichtlich. Als Mia befragt wird, spricht sie darüber, dass Revolution etwas Normales oder gar Natürliches sei, sie damit aber nichts zu tun habe. Sie empfindet ein derartiges Aufbegehren als geradezu sinnlos, da alle Menschen im Grunde gleich seien. Mia verachtet die Menschen, doch bekennt sich noch als Anhängerin der METHODE. Hutschneider versucht, ihre Aussagen gegen sie zu verwenden. Mia beschreibt weiterhin ihre Entscheidungsunfähigkeit und beharrt darauf, ungefährlich zu sein. Auf Sophies Frage über die Bedeutung von privatem und allgemeinem Wohl antwortet Mia, dass der Staat dem Streben nach Glück der Menschen dienen solle. Doch dafür verlange es womöglich Unfehlbarkeit. Darauf versucht Bell, sie als Schuldige darzustellen. Schließlich bringt Rosentreter seinen Antrag vor. Als er dabei über den Vorgang von Stammzellspenden ausholt, wird ihm das Wort entzogen, vor allem durch Heinrich Kramer. Dieser befindet sich im Publikum und macht einen selten schwachen Eindruck. Rosentreter setzt sich über die Gegenstimmen hinweg, beendet seinen Vortrag und entlarvt dabei einen weiteren Mordervertächtigen im Fall Sibylles. Aufgrund einer Stammzellspende war Moritz Holls Erbgut identisch mit dem seines Spenders. Daraufhin bricht ein Tumult im Saal los.

Zurück in Mias Wohnung feiert Rosentreter seinen Triumph. Von nun an will er sich vorerst bedeckt halten. Mia hingegen sieht einen Sturm aufkommen. Sie bezeichnet sich selbst als krank und weist plötzlich fanatische und idealistische Züge auf. Sie will handeln. Die »ideale Geliebte« ist darüber bestürzt. Mia ruft Kramer an und befragt ihn nach seinem Eintreffen über das Leben und seine Einschätzung zur Lage. In Kramers Antwort wird seine Überzeugung von der METHODE und seine Abneigung gegenüber der Verherrlichung von Krankheit deutlich. Mia stellt ihn auf die Probe, indem sie behauptet, die METHODE unterscheide sich in ihrem Grundsatz nicht von anderen Regierungssystemen. Kramer räumt ein, dass es immer Widerstände gäbe, aber kein System so fehlerfrei sei. Mia stellt dies in Frage. Sie bezeichnet sich nicht länger als Rationalistin, stattdessen würde sie von nun an mit dem Herzen denken. Sie nennt Kramer ihren Feind, den sie aber dennoch als Sprachrohr benutzen wolle. Die »ideale Geliebte« reagiert erneut erstaunt, doch diesmal zufrieden.

Das darauffolgende Kapitel »Wie die Frage lautet« beinhaltet Mias Stellungnahme, in dem sie dem System und der damit einhergehenden Gesellschaft das Vertrauen entzieht.
Kramer bedankt sich bei ihr, denn er glaubt, er könne Mias Worte gegen sie und damit für die METHODE nutzen.

Die »ideale Geliebte« sieht ihre Aufgabe, dass Mia ihren Bruder Moritz angemessen im Gedächtnis behalten soll, nun als erfüllt an und verabschiedet sich.

Analyse

Die Aufzählung der zum Prozess hinzugekommenen Möbel sowie Teilhabenden zeigt das wachsende Ausmaß des Falls auf. Mia wird ständig mit Desinfektionsmittel eingesprüht, was symbolisiert, wie die METHODE mit den für sie typischen Maßnahmen versucht, Kontrolle auszuüben. Mias gemischte Gefühle aus Furcht und Freude weisen auf, dass sie noch keinen klaren Entschluss gefasst hat. Mit ihrer Aussage: »Ich bin Naturwissenschaftlerin. [...] Keine Terroristin« (157) positioniert sie sich von Prozessbeginn an. Sie nutzt Beschreibungen aus der Tierwelt, um sich von Revolution und der R.A.K. zu distanzieren. Während die Richterin Sophie ihr folgen kann, stoßen Mias Aussagen bei Bell auf Unverständnis. Er und Hutschneider sind darauf aus, Mias Worte gegen sie zu verwenden.

Die Unstimmigkeiten unter den Geschworenen verwirren nicht nur Mia, sie zeigen auch deutlich, dass sie der METHODE unterliegen und Mia nicht als deren Opfer darstellen werden. Als Sophie ihren Pferdeschwanz löst, »etwas, was sie noch nie getan hat« (160), kreiert das eine Geste des sich Ergebens, des Lösens von den bisher streng eingehaltenen Richtlinien und dem Druck ihrer Kollegen. Dies gipfelt in ihrem beruflichen Todesurteil, dass sie sinnbildlich unterschreibt, als sie Rosentreters Antrag zustimmt (vgl. 162). Dieser tut ihr leid, sie will ihm eine Chance geben und den Fall umfassend betrachten. Als sie merkt, dass dessen Ausführungen ausufern, versucht sie, ihm das Wort zu entziehen. Doch es ist bereits zu spät. Kramers Aufforderung, Rosentreters Rede zu unterbrechen, wird beschrieben als ob diese »von der Saaldecke zu kommen scheint« (166). Kramer symbolisiert dabei die METHODE, die sich über seine menschliche Gestalt erhebt. Sein Körper erscheint in diesem Fall schwach und blass, doch seine Aussage ist es, die überwiegt und von seinem Menschsein getrennt wahrgenommen wird. Er erkennt, auf welche Bedrohung die METHODE in diesem Moment zusteuert. Rosentreter ist jedoch nicht mehr aufzuhalten. Mias stürmische Reaktion auf seine Entdeckung wirkt wie eine Entschuldigung an ihren Bruder, sich so lange nicht zu ihm bekannt zu haben. Sophie bricht in Tränen aus. Sie hat ihre Stellung verloren, da sie dem Menschlichen nachgegeben hat.

Rosentreters Offenlegung der identischen DNA von Moritz Holl und Walter Hannemann beschreibt den Höhepunkt der Erzählung. Es wurde damit ein Fehler der METHODE bewiesen, was ihre bisherige Standfestigkeit ins Wanken bringt. Für Mia hat das zur Folge, sich endlich klar zu ihrem Bruder zu bekennen. Auf den Seiten 174 ff. wird mit einer bildlichen Beschreibung eines aufkommenden Sturms Mias inneres Erwachen verdeutlicht. Gleichzeitig handelt es sich dabei um eine höhere Gewalt, die von Mia Besitz ergreift und gegen die sie sich nicht wehren kann. »Ab heute [...] tue ich alles aus Liebe und frei von Furcht« (174). Sie verschreibt sich somit ganz ihrem Gefühl. Ihre Intensität lässt sie fanatisch erscheinen, was selbst die »ideale Geliebte« zur Sorge veranlasst. Mia bezeichnet sich als krank und damit frei. Krankheit bedeutet Freiheit und damit die Flucht aus dem Gesundheitssystem. Sie wird somit von einer Befürworterin der METHODE zu ihrer Gegnerin.

Ihr nächster Schritt ist, Heinrich Kramer für ihre Zwecke zu benutzen. Seine Ausführungen über das Leben zeigen erneut seinen Glauben an die METHODE, die wesentlich weniger Fehler aufweisen würde als andere Systeme. Trotz des offengelegten Fehlers anhand von Moritz Holls Fall kann aus seiner rationalen Sichtweise kein anderes System die METHODE ersetzen. Jegliche Veränderung lehnt er ab. Darin findet Mia ihre Begründung, sich Kramer entgegenzustellen und ihn als Feind zu betrachten. Im Gegensatz zu ihm hat sie sich der Rationalität entzogen: »Ich kann jetzt mit dem Herzen denken« (183). Sein Wunsch nach Erhaltung steht im Kontrast zu dem ihren nach Veränderung.

Ihre Position veröffentlicht Mia in einer Proklamation, für welche sie Kramer als Sprachrohr nutzt. Das Kapitel »Wie die Frage lautet« umfasst ihre Stellungnahme in einer anaphorischen Aneinanderreihungen von Entzugsformeln, die einer Beschwörung gleich kommen (Möbius, 90f.). Die Aussagen bauen inhaltlich aufeinander auf und richten sich an jegliche Lebensbereiche, die unter dem Einfluss der METHODE stehen. Mia übt damit Kritik am System. Die METHODE schreibt eine Gesundheit vor, welche den Körper optimiert, aber den Geist außer Acht lässt. Sie lässt Rationalität statt Menschlichkeit entscheiden, zwingt ihre Bevölkerung zur totalen Kontrolle und entzieht ihr die Mündigkeit zur freien Entscheidung. Diese und weitere Aspekte werden in Mias Schrift angesprochen. Zum Schluss entzieht sie sich selbst das Vertrauen, da sie so lange blind für die Sichtweise ihres Bruders war.

Kramers optimistische Stimmung sowie seine Aussage zu Mias Wohnung »er hoffe, dass sie sich darin wohlgefühlt habe« (188) antizipieren ihre Verhaftung. Die fallende Handlung wird eingeleitet. Obwohl Mia erst verwundert darüber ist, wird es ihr nach seinem Verschwinden egal. Ihr Werk ist getan. Das sieht auch die »ideale Geliebte« so, die sich nun von Mia verabschiedet. Sie sorgt sich um Mia und warnt sie vor dem Märtyrertum, das der Ernennung zur Heiligen vorausgeht. Wie schon anhand der Folter zuvor entsteht auch hier ein Bezug zum Mittelalter. Die Sätze, welche die »ideale Geliebte« Moritz ausrichten soll, malen ein Bild von einer naturverbundenen glücklichen Kindheit voller Leben. Sie zeigen, dass Mia Moritz’ Weltbild nun endlich wirklich verstanden hat. Mit dem Verschwinden der »idealen Geliebten« ist Mias Verwandlung zur Systemgegnerin vollendet.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.