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Corpus Delicti

Abschnitt 2

Zusammenfassung

Wieder erfolgt ein Rückblick, in welchem Mia ihren Bruder Moritz im Gefängnis besucht. Bei ihrem Gespräch durch Plexiglas übergibt Moritz ihr seine »ideale Geliebte«. Sie soll seine Gedanken in Mia wachhalten. Im Gegenzug verlangt er nach einer Angelschnur, die Mia ihm übermittelt.

Mia versucht Kramers Rat zu folgen und Ordnung in ihre Wohnung zu bringen. Doch sie scheitert. Stattdessen verliert sie sich in Gesten, die an ihr letztes Treffen mit ihrem Bruder erinnern und zeigen, wie sehr sie ihn vermisst. Sie verliert sich in sich selbst und versinkt in Selbstmitleid. Die »ideale Geliebte« spendet ihr Trost.

Nachdem Mia nicht freiwillig zum Klärungsgespräch erschienen ist, muss sie sich einer Untersuchung unterziehen und befindet sich anschließend bei einer Anhörung mit der Richterin Sophie. Diese hegt eine gewisse Sympathie für Mia und kennt außerdem ihren Hintergrund, da sie beim Prozess ihres Bruders anwesend war. Sie schlägt Mia Maßnahmen zur Rehabilitation vor, doch diese lehnt ab. Mia sieht ihren Schmerz und Leidenszustand als Privatangelegenheit, aufgrund derer sie in Ruhe gelassen werden will. Sophie belehrt sie darüber, dass die METHODE auf dem Wert des Allgemeinwohls basiere und keinen Raum für Privatangelegenheiten ließe. Sie ist jedoch bereit, von den Maßnahmen abzusehen, solange sich Mia an die Regeln halte.

In einem weiteren Rückblick schleift Moritz Mia mit sich zu einem Fluss, wo er angelt. Moritz bezeichnet die Natur als seine Religion und offenbart seinen Glauben an eine andere Welt als die METHODE. Mia steht dem misstrauisch gegenüber und ist entsetzt, als er sich eine Zigarette in den Mund steckt.

Zurück im Handlungsgeschehen träumt Mias Nachbarin Driss von Mia und Kramer, die in ihrem Kopf zu Stars werden, die sie anhimmelt und mit denen sie ihre Tagträume füllt. Als sie plötzlich Rauch riecht, schlägt sie Alarm. Grund dafür ist Mia, die in ihrer Wohnung eine Zigarette raucht, um Moritz nahe zu sein. Daraufhin landet sie wieder vor Gericht. Richterin Sophie ist außer sich, da Mia die getroffenen Vereinbarungen durch den Zwischenfall derart missachtet hätte. Mia findet keine passenden Antworten mehr. Stattdessen spricht sie frei vom Herzen, unter anderem von dem Wunsch, ihrem Bruder nahe zu sein.

Analyse

Da die Handlung in der Zeit nach Moritz’ Verhaftung und Tod spielt, werden die Kapitel, in denen Moritz als Figur auftritt, als Analepsen, also Rückblicke eingefügt. In einem solchen wird die letzte Begegnung der Geschwister beschrieben. Auf Mias Enttäuschung, dass Moritz keine Frau finden konnte, berichtet er ihr von seiner »idealen Geliebten«. Mit der Behauptung, dass sie Mia zu ihm zurückführen würde, erklärt er nicht nur, dass die »ideale Geliebte« sein Gedankengut wach hält, sondern Mia von diesem überzeugen wird. Die Aussage gibt eine Vorahnung auf Mias Entwicklung, die sie letzten Endes wie schon Moritz als Gegnerin der METHODE ins Gefängnis bringen wird. Für die »ideale Geliebte« fordert Moritz eine Gegenleistung, die Mia ihm in Form der Angelschnur leistet. Dadurch hat auch sie zu seinem Tod beigetragen, da Moritz sich mit dieser erhängt. Seine letzten Worte: »Das Leben [...] ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann« (46) weisen nicht nur auf seine Entscheidung zum Selbstmord hin, sondern zeigen auch seine Ideale. Moritz will selbst entscheiden, anstatt sich von der METHODE bestimmen zu lassen.

Im darauffolgenden Kapitel zeigt sich Mias Versuch, Kramers Worte ernst zu nehmen und ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Doch sie ertappt sich dabei, wie sie Löcher an die mit Kondenswasser beschlagene Fensterscheibe tupft, ähnlich wie die, durch die sie sich mit ihrem Bruder im Gefängnis unterhalten hat. Mit diesem Bild wird deutlich, wie sehr Mia in Gedanken bei Moritz ist. Nicht nur die Beschreibung der Löcher in der Scheibe, auch sprachliche Phrasen wiederholen sich aus dem vorherigen Abschnitt: »obwohl sie eigentlich schreien, etwas zerschlagen oder einfach nur weinen wollte« (47) kommt nur mit Veränderung der Konjugation bereits auf Seite 45 vor. Damit schlägt die Autorin eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und verknüpft das Geschehen.

Zu Beginn des Kapitels »Bohnendose« wird beschrieben, wie Mia einer Reihe Untersuchungen unterzogen wird. Dabei wird der Chip in ihrem Oberarm gescannt, der folglich seitenweise Informationen über sie preisgibt. Sie vergleicht sich dabei mit einer Bohnendose im Supermarkt, einem Objekt, das genauestens deklariert ist und nichts mit den komplexen Facetten, Emotionen und Werten eines Menschen gemeinsam hat. Dies ist eine Anspielung darauf, wie die Bevölkerung unter der METHODE betrachtet wird.

Im Gespräch mit der Richterin Sophie wird ein weiterer Vergleich hinzugezogen. Diesmal beschreibt Mia, wie sehr sich der Mensch von einer Saftpresse unterscheide, denn diese sei im Gegensatz zur unpraktischen Konstruktion Mensch in ihre Einzelteile zerlegbar. Somit lasse sie sich untersuchen und reparieren (vgl. 52). Dahinter verbirgt sich Mias Sehnsucht, ihre eigene Lage zu verstehen und in Ordnung bringen zu können, wozu sie offenbar nicht die Fähigkeit besitzt.

Die Richterin Sophie hegt Sympathie für die Beschuldigte und glaubt, mit ihrer fröhlichen und jugendlichen Art zu ihr durchdringen zu können. Außerdem weist sie Mia darauf hin, dass sie bei Moritz’ Prozess anwesend war und dadurch ihre Lage einschätzen könne. Das erweckt jedoch nur Mias Abneigung. Sie erinnert sich an die Richtern »als eine von vielen schwarz gekleideten Puppen in den Kulissen einer Geisterbahn« (53). Obwohl Moritz Sophie als eine der Guten beschrieben hat, ist der Vergleich mit ihrem gespenstischen Erscheinungsbild noch zu wach in Mias Erinnerung, sodass sie ihr und allen anderen Mitarbeitenden des Gerichts kein Vertrauen schenken will. Sie weist Sophie darauf hin, dass niemand ihren Zustand verstehen könne und sie allein gelassen werden wolle. Dabei ergreift sie die Hand der Richterin, was eine Grenzüberschreitung darstellt und die Dringlichkeit von Mias Worten unterstreicht.

Das Kapitel »Nicht dafür gemacht, verstanden zu werden« gibt einen Einblick in Mias Gefühlswelt. Sie findet keine Worte für das, was in ihr vorgeht. Aus der allwissenden Erzählperspektive wird beschrieben, wie Mia ihre Aggression gegen sich selbst richtet, während sie in Wirklichkeit in ihrem Bett liegt. Dies malt ein Bild von ihren Empfindungen, ihrer Zerrissenheit und Hilflosigkeit.

Sophie versucht Mia zu belehren, in dem sie Mia darauf hinweist, dass die METHODE und damit die Gesellschaft zum einen dazu verpflichtet ist, ihr zu helfen, zum anderen aber Mia sich dieser unterwerfen und die entsprechenden Maßnahmen ergreifen müsse, um das Allgemeinwohl aufrechtzuerhalten. Dabei wird der Deckmantel des Allgemeinwohls deutlich, unter dem sich die METHODE versteckt und der nur aufrechterhalten werden kann, wenn private Angelegenheiten, wie Mias Fall, nicht berücksichtigt werden. Schließlich gibt die Richterin jedoch Mias Bitten nach, die sich explizit von der Bezeichnung als Anti-Methodistin distanziert.

Anschließend folgt ein weiterer Rückblick, der noch vor Moritz’ Verhaftung liegt. Er zieht Mia mit sich in Naturgebiete außerhalb der gesicherten und desinfizierten Pfade, die als verboten gelten. Moritz bezeichnet diesen Ort am Fluss als »Kathedrale« und die Natur als seine Religion. Dieses Bild des verklärten Glaubens stellt einen eindeutigen Kontrast zu der von der Vernunft geleiteten METHODE dar. Seine Bemerkungen bezüglich Frauen und Partnersuche zeigen außerdem, wie wenig er von den Vorschriften hält. Das Zitat: »In meinen Träumen sehe ich eine Stadt zum Leben« (62) zeigt seine Sehnsucht in einer Aneinanderreihung von Anaphern. Als er sich eine Zigarette ansteckt, gerät Mia außer sich. Ihre Methodentreue zu dieser Zeit ist deutlich sichtbar. Obwohl sie sich erst dagegen sträubt, verbringt sie mit ihrem Bruder Zeit an dem verbotenen Ort.

Um Moritz in irgendeiner Weise nahe zu kommen, greift Mia schließlich selbst zur Zigarette. Nachbarin Driss riecht den Rauch im Haus und schlägt Alarm. Davor hat sie sich allerdings in Tagträumen über Mia und Heinrich Kramer verloren. Die Konkurrenten werden in ihren Fantasien zu einem Liebespaar. Driss ist noch jung und in einem System aufgewachsen, das sie nicht in Frage stellt, obwohl es sie kontrolliert. Sie scheint sich auch keine Mühe zu machen, dieses näher zu beleuchten. Viel mehr verliert sie sich in Schwärmereien. Dahinter verbirgt sich die Kritik der Autorin, die Politik immer wieder zu hinterfragen.

Aufgrund der Zigarette befindet sich Mia nun in einem Strafprozess. Ihre Erwiderungen auf die Fragen der Richterin machen deutlich, wie weit sie sich inzwischen von der METHODE entfernt hat. Sie findet nicht mehr die Antworten, die von ihr erwartet werden. Stattdessen spricht sie ehrlich über ihre Gefühle: »Da ist dieses Bedürfnis, ihm nahe zu sein« (68). Mias Emotionalität und Sympathie für Moritz’ Verhalten veranlassen die Richter zur Sorge, sodass Mia ein Verteidiger zugeordnet wird.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.