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Corpus Delicti

Abschnitt 1

Zusammenfassung

Im ersten Kapitel »Das Vorwort« wird Gesundheit in einer fiktiven Schrift von Heinrich Kramer als das natürliche Ziel und Streben des Menschen beschrieben. Dieses sorge für Harmonie und ginge über die Belange des einzelnen Individuums hinaus, sodass auch Gesellschaft, Politik und Recht diesem Ziel unterlägen.

Anschließend folgt eine Urteilsniederschrift über den Fall »Mia Holl«, die aufgrund methodenfeindlichen Verhaltens angeklagt, für schuldig erklärt und zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt wird. Die Hinführung zu diesem Urteil wird in den folgenden Kapiteln aufgedeckt.

In einer sauberen Stadt, in der alle Vorgänge perfektioniert wurden und die nicht länger von Umweltbelastungen und Krankheit überschattet wird, geht die Richterin Sophie ihrer Arbeit nach. Gemeinsam mit dem Staatsanwalt Bell und dem Rechtsanwalt Rosentreter werden die alltäglichen Vergehen der Bewohner*innen bearbeitet, für welche ihnen detaillierte Scans, Aufzeichnungen sowie Nacktbilder zur Verfügung stehen. Dabei werden sie von Heinrich Kramer unterbrochen, der aus den Medien als Berühmtheit bekannt ist. Er gibt sich als interessierter, aber stiller Beobachter. Als der Fall »Mia Holl« auf der Bildfläche erscheint, weckt dieser sein Interesse. Es handelt sich dabei aber lediglich um eine Vernachlässigung der Meldepflicht. Auch die sogenannte »Zentrale Partnervermittlung« hat die Betroffene noch nicht in Anspruch genommen, sodass das Gericht ein Klärungsgespräch statt einer Verwarnung veranlasst.

Die Handlung wechselt zu einem Wohnhaus, das als Wächterhaus deklariert ist. Hier übernehmen die Bewohner*innen selbst die Wartung, Desinfektion und Kontrolle von Messwerten. Das soll das allgemeine Wohl wie den Gemeinschaftssinn stärken. Die Nachbarinnen Pollsche, Lizzie und Driss unterhalten sich im Treppenhaus, als Heinrich Kramer eintrifft und nach Mia Holl fragt. Die Frauen haben nur gute Worte für sie übrig und glauben, dass Mia auf Partnersuche sei, da sie die Wohnung nicht mehr verlassen würde.

Mia befindet sich tatsächlich in ihrer Wohnung, wo sie Gedanken an ihren Bruder Moritz nachhängt und mit der »idealen Geliebten« über dessen Ansichten diskutiert. Dabei äußert Mia den Wunsch, etwas auf der Welt hinterlassen zu können. Sie erinnert sich an Moritz’ Vorwurf, dass sie Liebe nicht verstünde und fürchtet, ihn daher nicht angemessen vermissen zu können. Die »ideale Geliebte«, ein Hirngespinst, das nur Mia sehen und hören kann, weist sie zurecht und will sie in den Arm nehmen, als es an der Tür klingelt.

Nachdem Mia die Tür geöffnet hat, kommt es zwischen ihr und Kramer zu einem Moment der Stille. Die beiden schauen sich in die Augen, jedoch nicht aus Liebe, sondern eher wie zum Auftakt eines langen Kampfes. Mia begegnet ihm mit Spott und Provokation. Dabei bezeichnet sie ihn als Mörder ihres Bruders. Auch die »ideale Geliebte« begegnet ihm mit Abneigung. Ohne auf Mias Erlaubnis zu warten, betritt Kramer ihre Wohnung und bedient sich. Ihre Anschuldigung streitet er ab, schließlich habe sich Moritz selbst umgebracht. Mia verurteilt alles, was zum Tod ihres Bruders geführt hat und erleidet einen kleinen Schwächeanfall. Kramer setzt sie aufs Sofa und sorgt für sie.

Ein Rückblick erklärt, dass Moritz Holl wegen Vergewaltigung und Mord an Sibylle angeklagt wurde, die er bei ihrem geplanten Blind Date tot auffand. Obwohl er sich unnachgiebig als unschuldig bekannte, berief sich das Gericht auf die Eindeutigkeit des DNA-Nachweises, der ihn als Täter identifiziere. Im Laufe dieses Prozesses und nun auch vor Mia predigt Kramer die Perfektion der METHODE, dem vorherrschenden System. Mia stellt diese in Frage, da sie von Menschen gemacht sei. Auch die »ideale Geliebte« mischt sich in die Argumentation ein und lässt Kramer glauben, Mia führe Selbstgespräche. Mia sieht sich vor der Wahl stehen, entweder das System oder ihren Bruder zu verraten. Kramer bittet sie jedoch, keine Entscheidung zu treffen. Vielmehr solle sie zur Normalität zurückkehren und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Er bittet sie um ein Zeitungsinterview, mit dem er bezeugen will, dass die METHODE selbst in Krisenzeiten das beste Fundament biete.

Analyse

Mit dem fiktiven Vorwort aus Heinrich Kramers Schriften wird gleich zu Beginn eines der Leitmotive des Buches benannt: Gesundheit, die über allem steht und das allgemeine Wohl begründet. Sie beginnt bei jedem einzelnen Glied einer Gesellschaft, kann über dieses aber genauso hinwegsehen, insbesondere wenn die Wahrung des Allgemeinzustandes in Gefahr ist. Dies lässt sich im letzten Satz: »Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon« erahnen (7f.).

Anschließend folgt die Urteilsverkündung von Mia Holl, die somit den Ausgang der Handlung bereits vorwegnimmt. Die Anklagepunkte stellen sie als Feindin des vorherrschenden Rechtssystems, der METHODE, dar. Die Veränderungen durch die METHODE zeigen sich in der darauf folgenden Beschreibung der Stadt. »Hier stinkt nichts mehr« (11) ist einer von zahlreichen Ausdrücken, die deutlich machen, wie sich die Umwelt der Menschen in dem in der Zukunft spielenden Szenario verändert hat.

Um diesen Zustand zu erreichen, hat sich die Gesellschaft zu einem totalitären Kontrollstaat entwickelt, welcher mit der Begründung, die Gesundheit und damit das Wohl der Bevölkerung zu wahren, agiert. Im Kapitel »Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts« wird die Alltäglichkeit dieser Überwachung sichtbar. Die Richterin Sophie geht ihrem Tagesgeschäft nach und erhält dabei Einblicke in die persönlichsten Daten und Informationen der Bürger*innen. Der Mensch wird entblößt und seiner intimen Privatsphäre beraubt. Selbst die Partnervermittlung ist Staatsangelegenheit und wird über die »Zentrale Partnervermittlung« geregelt. Die Begrüßung »Santé«, wie sie vor allem von Heinrich Kramer genutzt wird, unterstreicht die Wertstellung der Gesundheit. Heinrich Kramer selbst wird als Kultfigur der METHODE beschrieben. Er genießt Bewunderung und Macht.

Das Zitat »den Ausdruck von Menschen, die ein Leben lang von Schmerzen verschont geblieben sind« (17) beschreibt das Erscheinungsbild Mia Holls und erweckt neben den radikalen Maßnahmen der METHODE einen Eindruck von deren positiven Ergebnissen.

Im weiteren Verlauf des Geschehens zeigt sich jedoch, dass die körperliche Unversehrtheit nicht mit der psychischen übereinstimmen muss. Anhand von Beschreibungen wie »in der Wohnung herrscht Chaos. Es sieht aus, als hätte hier seit Wochen niemand aufgeräumt, gelüftet oder geputzt« (26) lässt deutlich werden, dass im Leben von Mia Holl einiges aus den Fugen geraten ist. Grund dafür ist der Verlust ihres Bruders Moritz, der wegen Mordes angeklagt wurde und sich daraufhin im Gefängnis das Leben nahm.

Mia versucht, seine Gedanken aufzuschreiben, um ihn nicht zu vergessen. Begleitet wird sie dabei von der »idealen Geliebten«, bei der es sich, wie sich später herausstellt, um ein Fantasiewesen handelt, das nur Mia wahrnehmen kann. Für sie handelt es sich dabei jedoch um ein physisches Subjekt, das mit ihr interagieren, sprechen und körperliche Nähe austauschen kann. Die »ideale Geliebte« symbolisiert Moritz’ Gedankengut und die Seite von Mia, die sich gegen die METHODE und die Vernunft auflehnt. Sie bildet die Seite der Emotionalität und Gefühlswelt. Dies zeigt sich zum Beispiel, als Mia sich in einem Gedankenkarussell darüber verliert, ob sie in der Lage ist, Moritz wirklich zu vermissen. Die Reaktion der »idealen Geliebten«: »Red keinen Scheiß. [...] Wir vermissen ihn« (28) durchbricht die rationale Antwortsuche mit der Versprachlichung ihrer Empfindung.

Das Aufeinandertreffen von Mia und Heinrich Kramer kann als Auftakt der steigenden Handlung angesehen werden. Bis zu diesem Punkt wurden alle beteiligten Personen sowie Konflikte vorgestellt. Nun stehen sich die beiden Gegenspieler das erste Mal gegenüber. Bereits hier wird die komplexe Beziehung der beiden Charaktere thematisiert. Obwohl ihre Gegensätzlichkeit in Argumentationen und der Ablehnung des anderen deutlich wird, lässt eine plötzlich aufkommende Nähe diese in ein anderes Licht rücken. Zu Beginn des Kapitels »Eine hübsche Geste« wird direkt darauf hingewiesen, dass trotz der aufkommenden Spannung zwischen Kramer und Mia diese nicht als »Liebe auf den ersten Blick« (29), sondern viel mehr als »stummes Getöse am Anfang einer Geschichte« (29) verstanden werden sollte. Dennoch begegnet Kramer Mia teilweise mit fürsorglichen Gesten, was einen Kontrast zu seinen Beweggründen darstellt.

Obwohl Heinrich Kramer behauptet, das System der METHODE brauche keine Ideologien, ist es zu einer solchen geworden. Es existiert nur schwarz oder weiß, dafür oder dagegen. So wurde sich auch beim Fall »Moritz Holl« auf die Eindeutigkeit der DNA-Werte berufen, anstatt den Aussagen des Angeklagten Beachtung zu schenken und diese zu differenzieren. Die Vernunft wird zum Leitmotiv erhoben, auf dem alle Entscheidungen beruhen. Diese Überzeugung zeichnet eine Parallele zur Epoche der Aufklärung, in welcher der Mensch sich seines eigenen Verstandes bedienen und nach der Vernunft handeln sollte (Möbius, 106). Das Zitat der »idealen Geliebten« unterstreicht Kramers Rationalität und seine Abneigung gegenüber Gefühlsentscheidungen: »der Mann spricht in Formeln. Der Mann ist eine Maschine!« (37). Mia und Kramer sind sich in ihrer intellektuellen Sprache ebenbürtig. An diesem Punkt des Romans wird Mias Zerrissenheit zwischen den Idealen ihres Bruders und denen des Systems, in dem sie aufgewachsen ist, deutlich.

Veröffentlicht am 7. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. April 2023.