Juli Zehs Zukunftsroman »Corpus Delicti« erschien 2009 mit dem Untertitel »Ein Prozess«. In der Mitte des 21. Jahrhunderts ist in Deutschland die körperliche Gesundheit der Bürger das oberste Ziel der herrschenden »Methode«. Sie beansprucht für sich Unfehlbarkeit. Als die anfänglich methodentreue Protagonistin Mia Holl das System des Unrechts beschuldigt, wird sie zur Staatsfeindin und Integrationsfigur von Widerstandszellen. Unterstützt von Mias Gegenspieler, dem Intellektuellen und Journalisten Heinrich Kramer, bringt die Justiz sie zum Schweigen.
Als Staatsfeindin wird die vierunddreißigjährige Mia Holl zum »Einfrieren auf unbestimmte Zeit« verurteilt. Rückblickend wird erzählt, wie es zu dem Urteil kam.
Mia trauert um ihren Bruder Moritz und kommt in ihrer Verzweiflung ihren Meldepflichten nicht nach: Es fehlen Schlaf- und Ernährungsberichte sowie Daten von Blutdruckmessungen oder Urintests. Das Gericht beschließt, die bisher vorbildliche Biologin zu einem Klärungsgespräch einzuladen.
Der siebenundzwanzigjährige Moritz war aufgrund des Ergebnisses eines DNA-Tests wegen Mordes verurteilt worden. Wiederholt hatte er seine Unschuld beteuert und sich schließlich das Leben genommen. Mia bezichtigt den Starjournalisten Kramer der Hetzjagd auf Moritz und einer Mitschuld an dessen Tod. Trotzdem gibt sie Kramers Bitte um ein Interview nach.
Bei ihrer letzten Begegnung im Gefängnis schenkte Moritz seiner Schwester eine fiktive Figur, seine »ideale Geliebte«, in der seine Ideen weiterleben sollten. Im Gespräch mit der »idealen Geliebten« erinnert Mia sich jetzt an Moritz: Die »Methode«, die jedem Menschen ein gesundes und schmerzfreies Leben ermöglichen will, basiert einzig auf Vernunft. Moritz dagegen wollte für Lust und Liebe leben.
Einerseits gibt es für die Naturwissenschaftlerin Mia keine Alternative zum System, andererseits spürt sie, dass ihr Bruder – allen Beweisen zum Trotz – unschuldig ist. Sie kann sich nicht dazu aufraffen, aufzuräumen, zu putzen oder ihre Gesundheitsdaten zu messen. Organisch gesund lehnt sie die vom Gericht im Klärungsgespräch angebotene psychologische Betreuung ab. Sie kann durchsetzen, dass das System sie vorerst in Ruhe lässt, damit sie selbst einen Weg aus der Krise finden kann.
Moritz und Mia haben sich regelmäßig außerhalb des »Hygienegebiets« an einer Lichtung am Fluss getroffen, wo Moritz verbotenerweise geangelt, geraucht und beiden das Leben ausgemalt hat, von dem er träumte. Um die Erinnerung an Moritz, an seine Lebenslust, seinen Freiheitsdrang und sein Lachen zu intensivieren, zündet Mia sich in ihrer Wohnung eine Zigarette an und löst damit einen Feueralarm aus.
Wegen des Missbrauchs toxischer Substanzen wird gegen Mia ein Strafprozess eröffnet und Lutz Rosentreter zum Pflichtverteidiger bestellt. Von ihm erfährt Mia, dass Moritz vom »Methodenschutz« beobachtet wurde. Als Mia sich bemüht, die versäumten obligatorischen Sporteinheiten nachzuholen, wirft die »ideale Geliebte« ihr Unentschiedenheit vor. Mia habe die Schwächen des Systems erkannt und könne nicht mehr hinter diese Erkenntnis zurück.
In der Talk-Show des jungen TV-Moderators Würmer warnt Kramer davor, die Gefahr, die von den Anti-Methodisten ausgehe, zu unterschätzen. Er nimmt deutlich Bezug auf Mia.
Die Angeklagte wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, was auch an Rosentreters aggressiver Prozessführung liegt. Hinter seiner Verfahrensweise vermutet Mia zurecht einen persönlichen Feldzug gegen die »Methode«. Rosentreter liebt eine Frau, mit der er immunologisch nicht kompatibel ist. Das System verwehrt ihnen eine gemeinsame Zukunft.
In Rosentreters Gegenwart spricht Mia zu Kramer von Moritz und dessen großer Liebe zur Natur. Im Alter von sechs Jahren sei er an Leukämie erkrankt, konnte aber durch eine Knochenmarkspende geheilt werden. In seinem Zeitungsartikel warnt Kramer eindringlich vor der terroristischen Bedrohung durch methodenfeindliche Kräfte, zu denen er auch den toten Moritz Holl zählt. Er zitiert Mias Äußerungen über Moritz und nennt dabei ihren vollen Namen.
Mia steht jetzt wegen methodenfeindlichen Verhaltens unter Anklage. Während der ersten öffentlichen Verhandlung erklärt sie sich als Anhängerin der »Methode«, bezweifelt jedoch deren Unfehlbarkeit. Rosentreter führt den Beweis, dass Moritz unschuldig war: Nach der Stammzellentransplantation hatte Moritz dieselbe DNA wie der Spender Hannemann. Dieser hatte die Frau getötet.
Mia wird freigelassen und nach diesem Teilsieg rät Rosentreter ihr, sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Doch Mia will sich zu Moritz bekennen und die »Methode« als Unrechtssystem entlarven. Sie lässt Kramer zu sich kommen. Dieser sieht in der Überwindung von Krankheit das Verdienst und die Legitimation des Systems. Der Irrtum in Bezug auf Moritz stelle nicht das System als solches in Frage. Mia findet in ihm einen unbeirrbaren Vertreter seiner Überzeugung und damit einen ihr ebenbürtigen Feind.
Sie diktiert Kramer ein persönliches Manifest, in dem sie Staat und Gesellschaft das Vertrauen entzieht. Die »ideale Geliebte« verlässt daraufhin Mia, weil ihre Mission erfüllt sei. Wenig später überfällt der »Methodenschutz« Mia in ihrer Wohnung und nimmt sie gefangen.
Mias Manifest sorgt für Aufruhr im Volk. Mia wird zur Integrationsfigur verschiedenster Widerstandsbewegungen und Zehntausende demonstrieren für ihre Freilassung. In einem Fernsehauftritt identifiziert Kramer Viren als die größten Feinde des Systems. Heutzutage bestünden die Viren aus »infektiösen Gedanken«, denen man bereits den Kampf angesagt habe.
Kramer besucht Mia in ihrer Zelle. Sie soll ein Geständnis unterschreiben, das Moritz zum Kopf einer Widerstandszelle macht, der sie ebenfalls angehört. Aus ihrer über Jahrzehnte angelegten Datenspur und mithilfe Kramers Manipulation wurden Beweise gegen sie konstruiert. Der frühere TV-Moderator Würmer, jetzt ebenfalls in Haft, tritt als Kronzeuge gegen Mia auf und belastet sie schwer. Mia bleibt unbeugsam.
Noch immer ist die öffentliche Ruhe gefährdet. Mias Geständnis soll deshalb durch Folter erzwungen werden. Auch nach Elektroschocks und Schlafentzug lässt Mia sich in ihrer Haltung nicht beirren: In Gegenwart Kramers entfernt Mia mit Hilfe einer Nadel den Chip mit ihren Gesundheitsdaten aus ihrem Oberarm.
In der Schlussverhandlung wird Mia einer Reihe erfundener Verbrechen für schuldig erklärt und verurteilt. Die Vollstreckung wird vorbereitet und Mia soll eingefroren werden. Um zu verhindern, dass sie als Märtyrerin in die Geschichte eingeht, wird sie im letzten Moment begnadigt: Mia soll ab jetzt psychologisch betreut und im Sinne der »Methode« umerzogen werden.
Juli Zeh zeichnet in »Corpus Delicti« das Bild einer Gesundheitsdiktatur, die auf Vernunft und Logik fußt. Diese gibt vor, angstfreie Räume und Sicherheit zu schaffen und damit die Probleme zu lösen, die durch den Werteverfall zur Jahrtausendwende entstanden sind. Dafür haben die Bürger umfassende Reglementierung und Überwachung sowie Verzicht auf jegliche Lebensfreude in Kauf zu nehmen: No risk, no fun.