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Draußen vor der Tür

4. Szene

Zusammenfassung

Beckmann spricht bei einem Kabarettdirektor vor. Dieser plädiert für eine neue revolutionäre Jugend, gleich den großen Dichtern und Berühmtheiten. Realistisch, handfest, unsentimental, aber gleichzeitig jung, leidenschaftlich und Repräsentanten ihrer Zeit sollen sie sein. Beckmann wirft noch immer leicht angetrunken seine Kommentare dazwischen.

Der Direktor ist von Beckmanns Brille fasziniert. Er hält sie für grotesk und originell. Beckmann gibt dazu seine inzwischen automatisch ausfallende Erklärung ab. Beim Direktor stößt dies auf Unverständnis. Der Krieg sei schließlich vorbei und man könne ins Zivilleben zurückkehren. Beckmann ist jedoch erst vorgestern aus Sibirien wiedergekommen. Der Direktor macht ein paar oberflächliche Bemerkungen zum grässlichen Sibirien und behauptet, er habe vorgesorgt. Er besitze drei Hornbrillen. Beckmann bleibt sachlich. Da er in Sibirien schlecht vorsorgen konnte, wagt er es, den Direktor zu fragen, ob dieser ihm eine Brille abgeben könne. Doch dieser verneint, schließlich bräuchte er die Brillen und hätte so wenige. Beckmann versucht, ihn mit seiner Brille davon zu überzeugen, dass er lustig und skurril sei. Dies bestreitet der Direktor nun. Beckmann sei gruselig und fürchterlich. Die Leute sehnen sich aber nach dem Positiven. Als Beispiele nennt er unter anderem berühmte Namen wie Goethe und Mozart. Beckmann ist allerdings nur Beckmann und neu beim Kabarett. Der Direktor schätzt seine Chancen daher schlecht ein. Sie nehmen keine Anfänger. Beckmann soll in seinem jungen Alter zunächst Erfahrungen sammeln.

Auf die Frage, was er bisher gemacht habe, kann Beckmann nur mit Krieg antworten. Er wird wütend, da ihm weder Chancen noch Perspektiven offen stehen. Der Direktor fühlt sich daraufhin persönlich angegriffen. Schließlich habe nicht er Beckmann nach Sibirien geschickt. Beckmann antwortet sarkastisch, sie seien ganz von allein gegangen. Die Toten seien von allein zurückgeblieben. Die Wiederkehrer seien perspektivlos.

Der Direktor gibt schließlich nach. Beckmann soll sein Können beweisen und sich auf die Bühne stellen. Beckmann trägt mit leiser monotoner Stimme, begleitet mit dem Xylophon, den Kriegsschlager »Tapfere, kleine Soldatenfrau« vor, dessen Text er an die Erlebnisse seiner vergangenen Tage anpasst.

Der Direktor ist nicht gänzlich abgeneigt, doch es mangele Beckmann an Esprit und Erotik. Beckmanns Darbietung sei nicht schlecht für einen Anfänger, aber noch zu plakativ. Umfassend zählt er auf, wonach er sucht. Es müsse heiter und ausgelassen sein. Beckmanns Reaktionen sind tonlos. Als der Direktor jedoch zu dem Schluss kommt, dass er noch ein paar Jahre warten müsse, um die Kunst reifen zu lassen, reagiert Beckmann entsetzt. Er kann nicht warten. Er hat jetzt Hunger, braucht jetzt Arbeit und Geld. Der Direktor behauptet, Beckmanns Verse seien zu direkt. Sie erzählen die Wahrheit und niemand wolle die Wahrheit hören.

Beckmann ist betroffen und wütend. Er verlässt das Büro des Kabarettdirektors und macht sich auf den Weg zur Elbe. Der Andere taucht wieder auf, versucht ihn aufzuhalten und weg von der Elbe auf die Straße zu locken. Beckmann ist hoffnungslos. Er passt nirgendwo mehr hinein. Er hält die Wahrheit nicht aus und niemand will sie hören. Er findet keine Erlösung. Beckmann ist ein Niemand, dem keine Türen geöffnet werden. Somit bleibe er immer draußen, draußen vor der Tür. Der Andere erinnert ihn an seine Eltern. Bis zu dem Zeitpunkt hatte Beckmann nicht an sie gedacht. Jetzt will er sie unbedingt sehen.

Analyse

Beckmanns anhaltender betrunkener Zustand verknüpft die 3. mit der 4. Szene und stellt die zeitliche Kontinuität her. Dass er den Empfehlungen des Obersts folgt, beschreibt seine Ausweglosigkeit und Perspektivlosigkeit, die in der 4. Szene besonders zum Tragen kommt.

Erneut wird er über seine groteske Erscheinung mit der Gasmaskenbrille definiert. Sein Versuch, eine Kabarettnummer darzubieten, ist seinem Zustand so fremd, dass das Lächerliche und Groteske nur noch gesteigert wird. Die Komik bildet in der Regel das Gegengewicht zur Tragik. In diesem Fall beschreibt sie allerdings einen bitteren Fluchtversuch, das Leiden zu erdulden. Das Leid ist trotzdem allgegenwärtig. Es offenbart sich in Beckmanns monotoner, leiser Stimme, mit der er das Lied der kleinen Soldatenfrau vorträgt. Die Begleitung auf dem Xylophon stellt die Verbindung zu seinem Traum her.

»Tapfere, kleine Soldatenfrau« war eine Schnulze von Karl Sträßer aus dem Jahr 1941, in der ein Soldat die Sehnsucht zu seiner Frau besingt, die daheim auf ihn wartet. Die letzte Strophe hofft auf ein siegreiches Ende des Krieges. (notenmuseum, online) Beckmann verarbeitet in seiner Version des Liedes seine eigenen Begegnungen mit seiner Frau, dem Mädchen und dem Einbeinigen.

Die Verse »Die Welt hat gelacht, | und ich hab gebrüllt. | Und der Nebel der Nacht | hat dann alles verhüllt« (31) beschreiben treffend seine Erfahrungen. Die Kürzung von »sauber« auf »sau-« (32) wird in dem von Beckmann später gesprochenem Reim bedeutsam, als er vom grauen Fell einer Sau spricht (vgl. 33f.). Diese Zerstückelung und Bedeutungsverschiebung spiegelt Beckmanns Suche nach der Wahrheit und seinem Platz wider, sowie sein zerrüttetes Innenleben. Beckmann schreit der Welt und dem Leben entgegen, hält es nicht mehr aus. Doch anstatt, dass er gehört wird und sich Menschen oder auch Gott ihm annehmen, wird über ihn gelacht. Die Schuld, das Leiden der Opfer und die Schrecken des Krieges werden von den Autoritäten ignoriert und verschwinden im Nebel der altbekannten Ordnung.

Auch der Kabarettdirektor wendet seinen Blick von den Folgen des Krieges ab. Mit Aussagen wie »Aber der Krieg ist doch lange vorbei! Wir haben doch längst wieder das Zivilleben!« (29) beschreibt er seine Rückkehr zum Alltag, ohne Gedanken an die täglich sterbenden, hungernden und heimatlosen Menschen zu verschwenden. Der Direktor hat keine klare Haltung. Stattdessen passt er seine Antworten jeder Situation an und nutzt sie zu seinem Vorteil. Erst hielt er Beckmanns Brille für originell. Als dieser damit auftreten will, um die Leute zum Lachen zu bringen, beschreibt er seine Erscheinung als furchteinflößend. Erst wirbt er, so gut vorgesorgt zu haben und drei Hornbrillen zu besitzen, ist dann jedoch nicht bereit, eine davon abzugeben, wo er doch so wenige habe.

Besonders bei der Führung seines Kabaretts zeigt sich seine eigentliche Inkompetenz und Unwissenheit, die er mit massivem Selbstbewusstsein überspielt. Der Kabarettdirektor nennt Berühmtheiten, von denen jedoch die wenigsten etwas mit Kabarett zu tun haben. Goethe war ein Dichter des 18./19. Jahrhunderts, Max Schmeling ein von den Nazis gefeierter Boxer der 1930er Jahre und Shirley Temple ein Kinderstar aus den USA. Dem Direktor mangelt es eindeutig an einem Konzept. Er schildert Visionen, die ziellos und unlogisch sind.

Dem Direktor fehlt es außerdem an Einfühlungsvermögen und Verständnis für Beckmanns Lage. »Gehungert. Gefroren. Geschossen: Krieg. Sonst nichts« (31) ist Beckmanns Reaktion in Form einer Alliteration auf die Frage, was er bisher gemacht habe. Beckmann charakterisiert somit die Generation junger Männer, deren bewusstes Leben ausschließlich von Nazi-Deutschland und Krieg geprägt war. Diese Generation steht nun vor einem Scherbenhaufen. Sie haben weder eine Vergangenheit, zu der sie zurückkehren können, noch eine Zukunft: »Aber wir, wir können nun nirgendwo anfangen. Nirgendwo anfangen.« (31)

Der Direktor verschließt sich vor dieser Tatsache und entzieht sich der Schuld. Seine Aussage: »Ich habe schließlich keinen nach Sibirien geschickt. Ich nicht« (31) mag der Wahrheit entsprechen. Dennoch ist der Direktor Teil einer Gesellschaft, die das Erbe des Krieges tragen muss, ein Fakt, dem er sich nicht stellen will. Die Erfahrungen, die Beckmann im Krieg gesammelt hat, reichen ihm nicht. Er solle stattdessen »auf dem Schlachtfeld des Lebens reifen« (31). Der Direktor verschließt sich öffentlich gegen die Wahrheit, von der Beckmann in seinem Lied singt. Diese Stellungnahme lässt sich auch auf die Gesamthaltung des Direktors übertragen.

Wieder landet Beckmann draußen vor der Tür, fühlt sich abgewiesen und missverstanden. Er ist auf der Suche nach der Wahrheit oder zumindest nach einer Möglichkeit, mit ihr zu leben. Er will die Verantwortung zurückgeben, vom Objekt wieder zum Subjekt werden, doch die Gesellschaft versperrt ihm den Weg und schlägt ihm sinnbildlich die Türen vor der Nase zu.

Letztendlich ist es jedoch immer Beckmann, der geht und nicht mehr in diese Welt zu passen scheint. Er vergleicht die Wahrheit mit einer Hure, die jeder kennt, aber zu der sich keiner bekennen will (vgl. 33). Seine Trunkenheit ist vorüber. Nun erscheint ihm die Welt wieder grau und rau, wie er in einer kurzen Passage in Versform festhält. Nur der Ausblick, seine Eltern zu sehen, verleiht ihm noch Hoffnung.

Die Unterhaltung zwischen Beckmann und dem Kabarettdirektor ist von zahlreichen Stilmitteln durchzogen, darunter Alliterationen, Hyperbeln und Ellipsen, die vor allem von Beckmann verwendet werden. Beispiele sind: »diese himmelschreiend häßliche Brille« (30) oder »Heißes hartes herzloses Metall« (31). Auch Metaphern kommen zum Einsatz, die zum Beispiel der Direktor gebraucht: »wir können die Leute nicht mit Schwarzbrot [Unterbrechung durch Beckmann] füttern, wenn sie Biskuit verlangen.« (33) Derartige Stilmittel kommen zwar auch in den anderen Szenen vor, bekommen aber im Kabarett, einem Ort der kunstvollen Sprache, eine höhere Aufmerksamkeit.

Veröffentlicht am 28. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. September 2023.