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Draußen vor der Tür

5. Szene, Teil 1

Zusammenfassung

Beckmann steht vor seinem Elternhaus. Er ist glücklich und überrascht, dass es noch steht. Er schwelgt in sentimentalen Kindheitserinnerungen, bis er feststellt, dass ein anderer Name an der Tür steht. Seine Stimmung kippt. Er ist fassungslos und klingelt, um Antworten zu bekommen. Frau Kramer öffnet ihm und fragt, was er wolle. Beckmann fragt immer wieder, wo seine Eltern seien. Frau Kramer zeigt wenig Mitgefühl. Stattdessen macht sie deutlich, dass dies nun ihre Wohnung sei. Schließlich gibt sie preis, dass die Beckmanns in Ohlsdorf, auf einem Friedhof, bestattet wurden.

Beckmann ist erschüttert. Er kann nicht glauben, dass seine Eltern tot sind. Es scheint ihm so, als wären sie nur kurz zuvor noch am Leben gewesen. Doch er ist drei Jahre lang in Sibirien gewesen. Frau Kramer klärt Beckmann darüber auf, dass sein Vater Nationalsozialist und Antisemit gewesen sei, wodurch ihm nach dem Krieg die Wohnung gekündigt und die Pension gestrichen worden sei. Frau Kramer spricht Beckmann auf seine Brille an, doch der will sich davon nicht aufhalten lassen und mehr über seine Eltern erfahren. Die alten Beckmanns haben sich das Leben genommen. Frau Kramer und ihr Mann bedauern das viele Gas, was sie dafür verwendet haben.

Als Beckmann dies hört, bittet er Frau Kramer eindringlich, schnell die Tür zu schließen. In seinem Inneren erkennt er den Wunsch, Frau Kramer für das Gesagte umzubringen. Beckmann hält es nicht mehr aus. Der Andere taucht wieder auf und will Beckmann zurück auf seinen Weg auf die Straße bringen. Doch Beckmann ist verletzt und verstört von Frau Kramers Worten. Der Andere beschwört Beckmann, dass er nicht darauf hören solle. Er müsse weitergehen und sein Leben leben. Beckmann reagiert entgegengesetzt und fordert den Anderen zum Hinhören auf. Die stetig wachsende Zahl der Toten lässt ihn nicht los. Beckmann hat sich verloren.

Der Andere versucht weiterhin, Beckmann zu ermutigen und nicht aufzugeben, auch wenn es dunkel wird. Das Licht könne nicht die ganze Zeit scheinen, doch es kämen immer wieder Laternen. Beckmann ist müde. Er kann den Jasager, wie er den Anderen nennt, nicht mehr hören. Er sehnt sich so sehr nach seiner Mutter, Wärme, etwas zu essen. Doch der Andere lässt nicht locker. Beckmann ist unendlich müde und will nur noch schlafen. Das Leben bezeichnet er als ein Theaterspiel aus fünf verregneten Akten.

Beckmann schläft ein. Er sagt, er mache nicht mehr mit, wie bei einer Befehlsverweigerung. Der Andere scheint kurzzeitig weit weg, dann wird er wieder lauter und versucht noch immer, Beckmann vom Leben zu überzeugen. Beckmann gibt sich dem Sterben hin.

Er trifft dann den »lieben« Gott. Beckmann fragt sich, ob die Menschen, zu denen er gut ist oder die, die ihn fürchten, ihn so nennen. Denn für Beckmann ist Gott nicht ›lieb‹. Er wirft Gott vor, ihm seinen Sohn genommen zu haben und fragt ihn, wo er war, als sich Stalingrad und all die anderen Grauen ereignet haben. Gott behauptet, dass keiner mehr an ihn glaube oder sich um ihn schere. Beckmann macht ihm den Vorwurf, dass er in der Kirche geblieben sei, als der Krieg kam und die Leute nach ihm gerufen haben. Doch Gott beteuert, dass die Menschen sich von ihm abgewendet hätten, nicht er von ihnen. Beckmann schickt ihn weg. Gott sollte ihm beistehen, doch stattdessen ist er nur ein weinerlicher alter Mann. Gott behauptet wehmütig, dass er es nicht ändern könne. Beckmann wendet sich von ihm ab . Gott passt nicht mehr in diese Zeit. Die Menschen und er hören sich nicht mehr. Nur der Tod ist noch präsent und Beckmann will sterben.

Analyse

Es handelt sich noch immer um denselben Abend, als Beckmann sein Elternhaus aufsucht. Für einen kurzen Moment lässt er Hoffnung zu, bis diese ein weiteres Mal zerstört wird. In Beckmanns Beschreibung wird der Tür besonders viel Bedeutung beigemessen. Hier handelt es sich um die Tür zur Wohnung seiner Eltern, hinter der er sich Wärme, Vertrautes und Geborgenheit erhofft.

Die Tür wird zwar von Frau Kramer geöffnet, allerdings bezieht sich das nur auf die Handlungs-, nicht die emotionale Ebene. Das ersehnte Willkommen oder eine Einladung nach drinnen bleiben aus. Frau Kramer ist eine Fremde, die durch aufgesetzte Freundlichkeit (vgl. 35) nur noch mehr Distanz und Kälte kreiert. Ihr Eigentum verteidigt sie klar als solches: »Das ist unsere Wohnung. Geboren können Sie hier ja meinetwegen sein, das ist mir egal, aber Ihre Wohnung ist das nicht. Die gehört uns.« (36)

Frau Kramer steht für das sogenannte Kleinbürgertum im nationalsozialistischen Deutschland, was die städtische Mittelschicht ausmacht. (Bernhardt, 88) Statt Reflexion und Aufarbeitung von Schuld und politisch-historischen Ideologien, bleibt Frau Kramer in ihrem kleinbürgerlichen Kosmos. Die Nazi-Herrschaft bezeichnet sie als »braune[s] Zeitalter« (37), den Selbstmord der Beckmanns als Entnazifizierung, als sei nur durch den Tod ein Abstreifen und Entkommen aus der nationalsozialistischen Denkweise möglich. Der Begriff bezieht sich jedoch eigentlich auf die Vorkehrungen der Alliierten, die die Entfernung der nationalsozialistischen Einflüsse und Ordnungen aus dem öffentlichen Leben veranlassten. Dazu zählten auch die Gerichtsverfahren und Überprüfungen der Nationalsozialisten zur Ermittlung der Schuldigen. (Bernhardt, 74)

Frau Kramer beschreibt Beckmanns Vater als Antisemit. Obwohl sie eine Ahnung haben muss, wie ernst es um den Antisemitismus im Dritten Reich stand, rührt ihre Aussage doch von einer deutlichen Distanz zu deren Schicksal: »War ja ein bißchen doll, das mit den Juden«. (37) Der Nachtrag: »Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten« (ebd.) charakterisiert sie als Mitläuferin. Mitgefühl für das Ende der alten Beckmanns bleibt aus. Vielmehr bekümmert sie das ›verschwendete‹ Gas, das seine Eltern für ihren Selbstmord nutzten. Ihre Figur lehnt an den realen Vorfall mit Borcherts Nachbarn Richard Kramer, einem überzeugten Nationalsozialisten, an. Dieser unterstellte der Familie, sich nicht regelkonform zu verhalten. Wegen ihm zogen die Borcherts 1937 um. (Bernhardt, 58f.)

Beckmann ist auf der Suche nach Heimat und erfährt Heimatlosigkeit. Seine Eltern leben nicht mehr. Wie zuvor sein Bett ist auch die Wohnung, in der er aufgewachsen ist, von anderen besetzt. Für Beckmann scheint es keinen Platz mehr zu geben. Den Anderen, der ihn unablässig zum Weiterleben überreden will, bezeichnet er als Schwein (vgl. 38). Er lehnt das Leben in der von ihm erfahrenen Gesellschaft entschieden ab und beschimpft den Anderen, der sich für ein solches ausspricht.

Es sind die Toten, die ihn nicht loslassen, eine Zahl, die jeden Tag um Tausende wächst und nun zählen auch seine Eltern dazu. In der Akkumulation, einer Aneinanderreihung von Begriffen zu einem Oberbegriff, »Tote, Halbtote, Granatentote, Splittertote, Hungertote, [...], Verschollene« (39) bringt er dies zum Ausdruck. Der Andere fordert ihn auf, nicht auf diese Zahlen zu hören und lehnt sich somit an die Strategie der Ignoranz an, die auch der Oberst, der Kabarettdirektor und Frau Kramer verfolgen. Beckmann ermahnt ihn jedoch, hinzuhören. Er sieht sich mit diesem Leid, der Verantwortung, konfrontiert. Er kann sie nicht ignorieren. Seine Versuche, sie an die Verursachenden zurückzugeben, sind gescheitert.

Er vergleicht die Menschen mit Bestien: »Wächst uns kein Schwanz, kein Raubtiergebiß, keine Kralle?« (39) Die Menschen haben für ihn ihre Menschlichkeit verloren. Das Leben gleicht einer verregneten Nacht, die immer schwärzer wird. Die Dramenstruktur dieses Lebens hat keinen Höhepunkt, sondern verläuft nur immer weiter abwärts. Dabei wird ein Verweis zur Struktur des Gesamtwerkes hergestellt. Auch in »Draußen vor der Tür« findet trotz der Unterteilung in Szenen, gleich Akten, kein klassischer Spannungsbogen statt. Vielmehr werden Stationen durchlaufen, welche keine Entwicklungskurve, sondern lediglich eine Aneinanderreihung von Ereignissen beschreiben.

Die Metaphorik von Licht und Laternen, mit der der Andere ihn vom Leben überzeugen will, findet bei Beckmann keinen Anklang. Mit der Aussage »Bist du so feige, daß du Angst hast vor der Finsternis zwischen zwei Laternen?« (39) zeigt der Andere eine ungewöhnliche Härte. Dieser kann auch als Vorwurf Beckmanns gegen sich selbst gedeutet werden und stellt somit dessen zerrüttetes Ich heraus und knüpft an seine Aussage vor dem Oberst an, dass er zu weich sei. Vielleicht ist es aber diese Weichheit, die ihn nicht die Augen verschließen lässt, die sein Mitgefühl und sein Mitleid mit den unzähligen Toten, Verletzten und Verschollenen sowie deren Familien begründet.

Nur der Tod scheint für Beckmann noch ein Ausweg zu sein: »Vielleicht ist er ganz nett, der Tod, vielleicht viel netter als das Leben.« (41) In der Begegnung mit Gott wird deutlich, dass Beckmann die Hoffnung auf diesen längst verloren hat. Ein Gott, der Stalingrad und den Tod seines Sohnes zugelassen hat, kann nicht »lieb« sein. Ein lieber Gott passt nicht mehr in das vom Krieg geprägte 20. Jahrhundert.

Die Unterredung mit Gott erfolgt in einem Traum und bildet (so wie die anderen Traum-Szenen im Stück) einen Gegenpart zu den sonst realistisch gezeichneten Szenen. Dabei wird die Entfremdung zwischen Gott und den Menschen herausgestellt. Während Beckmann als Opfer davon ausgeht, dass Gott sie verlassen habe, behauptet dieser das Gegenteil. Mit der Entfernung von Gott haben die Verantwortlichen das Grauen zugelassen: »Meine Kinder haben sich von mir gewandt, nicht ich von ihnen.« (42)

Obwohl Beckmann Gott für sein ausbleibendes Eingreifen Vorwürfe macht, gibt er ihm nicht die Schuld an den Geschehnissen. Gott ist in seinen Augen unfähig, ein veraltetes Konstrukt vergangener Jahrhunderte. Von ihm kann er keine Erlösung erwarten und somit ihm auch die Verantwortung nicht zurückgeben. Gott kann auch als Vaterfigur interpretiert werden, die an den zurückhaltenden Vater Borcherts erinnert. (Bernhardt, 60f.)

Veröffentlicht am 28. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. September 2023.