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Der Steppenwolf

Interpretation

Hallers zweigeteilte Persönlichkeit

Harry Haller wird bereits im ersten Satz des Vorwortes als »Steppenwolf« vorgestellt und somit von Anfang an als Außenseiter der Gesellschaft deklariert. Mit dieser Bezeichnung, sowie vielen weiteren folgenden (z. B. »ruppiger Eremit«, S. 28) bringt Hesse die Distanz zum Ausdruck, die zwischen Haller und seinen Zeitgenossen herrscht: Haller verabscheut die moderne Kultur, für ihn ist sie eine Kultur des Untergangs (Patzer, 2017). Alles, was nach Goethe oder Mozart kommt, ist für ihn kulturelle Dekadenz (ebd.). Nur die alte, traditionelle Kunst ist in seinen Augen wertvoll, und es ist diese Einstellung, die ihn in eine tiefe Krise stürzt. Denn in den 1920er Jahren, die geprägt waren von technischen und kulturellen Revolutionen, entwickelten sich zahlreiche neuartige Trends und Phänomene. Haller aber ist genau dieser Fortschritt zuwider, er sehnt sich stattdessen nach der schönen und wahren Kunst, nach einer vergangenen Zeit. Damit ist er nicht der Einzige: Der Herausgeber seiner Aufzeichnungen bezeichnet Hallers Seelenkrankheit als eine »Neurose« seiner Generation (S. 20), die viele traditionell orientierte Künstler und Intellektuelle befällt. All jene, die von dieser Neurose befallen sind, leben »zwischen den Zeiten« (S. 21), oder wie Hermine es ausdrückt, »mit einer Dimension zuviel.« 

Mit der Person Hallers hat Hesse eine mehr oder weniger indirekte Kritik seiner kontemporären Gesellschaft entworfen. Diese empfand er als zunehmend gespalten, in eine bürgerliche und eine künstlerische, intellektuelle Sphäre. Hesse selbst nahm diesen Konflikt als sehr erdrückend wahr, und zur Zeit, als er den Roman verfasste, war seine innere Zerrissenheit Druck aufgrund einiger vorangegangener Ereignisse in Hesses persönlichem Umfeld besonders stark (siehe auch: Historischer Hintergrund & Epoche). Hesse in seiner künstlerischen Profession litt unter den Erwartungen des Bürgertums an seine Werke; er war genauso zwiegespalten wie der Protagonist seines Romans (Stelzig, 1988). Damit hält Hesse auf prosaische Weise einen Konflikt fest, der nicht nur ihn, sondern viele Künstler der Moderne beschäftigte, und der beispielsweise auch in Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig« sehr deutlich zu finden ist. Aus diesem Grund wird Hesses Roman (zusammen mit Kafkas »Das Schloss«, Thomas Manns »Der Zauberberg, Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Brochs »Die Schlafwandler«, und Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«) auch oft zu den wichtigsten Romanen der Hochmoderne gezählt (Swales, 2009). 

Ein etwas anderer Bildungsroman 

So rigide Haller zunächst auch an seiner Selbstwahrnehmung als Steppenwolf festhält, ganz allmählich lernt er doch, davon abzulassen, und zu erkennen, dass seine Persönlichkeit aus mehr als nur zwei Hälften besteht. Im Laufe des Romans wird er mit einer ganzen Reihe von Lehren konfrontiert, die ihn dazu animieren, sein Selbst besser kennenzulernen. Die erste dieser Lehren ist das »Traktat vom Steppenwolf«. Indem es den Theorien Nietzsches folgt, erklärt das Traktat Haller, dass ein Ich eigentlich aus ganz vielen Ichs besteht, nicht nur aus zwei, und dass der beste Weg, damit umzugehen, der Gebrauch von Humor ist (Robertson, 2004). Diese Lehre wird später im Magischen Theater bestätigt. Um das Theater zu betreten, muss Haller zuerst seine Persönlichkeit als Steppenwolf ablegen. Im Anschluss fordert Pablo ihn auf, nun verschiedene Facetten seines Ichs kennenzulernen: »Suche dir schöne und heitere Bilder aus und zeige, daß du wirklich nicht mehr in deine fragwürdige Persönlichkeit verliebt bist!« (S. 165) 

Im Magischen Theater findet sich Haller in einem Raum voller Spiegel wieder, von denen jeder eine andere Version seines Ichs zeigt. Hinter jeder der darauffolgenden Türen wird er eines dieser Ichs kennenlernen. Die Lehren des Traktats werden auch noch einmal von den Darstellern des Magischen Theaters wiederholt: Der Schachspieler bringt Haller bei, dass er seine Persönlichkeit stets auseinander brechen und neu zusammensetzen kann, und Mozart führt ihm die Wichtigkeit von Humor vor Augen. Zum Ende des Romans hat Haller all diese Lehren verinnerlicht und nimmt sich vor: »Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen.« (S. 201)

Hallers Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe der Geschichte erheblich, er lernt viel dazu und bildet sich innerlich weiter. Eine solche Tendenz ist in vielen von Hesses Romanen zu beobachten, und damit ähneln sie sehr den Bildungsromanen aus der Epoche der Romantik. Während jene Protagonisten jedoch eine eher traditionelle Bildung erhalten und sich auf geographische Reisen begeben, ist das Ziel von Hesses Figuren die Entdeckung ihres wahren Selbst (Cornils, 2009). Sie durchlaufen eine psychoanalytische Bildungsreise. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den romantischen Bildungsromanen und ihrem Fokus auf die Psyche des Menschen werden Hesses Romane auch oft als »neuromantisch« eingestuft (Robertson, 2004; Patzer, 2017). 

Fiktion und Realität

Eines der vielleicht größten Probleme, das sich beim Lesen des »Steppenwolfs« stellt, ist wohl die Frage, welche der Ereignisse Fiktion und welche Realität sind. Geschehen Hallers in den Aufzeichnungen geschilderte Erlebnisse wirklich in einer realen Welt? Oder sind sie alle Teil einer längeren Sequenz von Träumen (Swales, 2009)? Schon der Verfasser des Vorworts wirft dieses Problem auf, indem er erklärt: »Es war mir nicht möglich, die Erlebnisse, von denen Hallers Manuskript erzählt, auf ihren Gehalt an Realität nachzuprüfen.« (S. 19). Stattdessen vermutet er, dass es sich um Versuche Hallers handele, »tief erlebte seelische Vorgänge« im »Kleide sichtbarer Ereignisse« darzustellen (S. 19). 

Je mehr wir von Hallers Schriften lesen, desto komplizierter wird die Frage nach dem Wahrheitsgehalt. Manches erscheint seltsam: Kann Haller sich wirklich von außen und dann auch noch doppelt sehen? Hält er Hermine wirklich für seinen Jugendfreund Hermann? Anderes wiederum könnte problemlos auch in der Realität passieren. Warum sollte sich Haller nicht mit Hermine, Pablo und Maria anfreunden? Warum sollte er sich in seiner Verzweiflung nicht entscheiden, ihre Welt der Tanz- und Vergnügungslokale kennenzulernen?

Am problematischsten ist das Verhältnis von Fiktion und Realität im Magischen Theater. Bevor Haller eintritt, sagt Pablo zu ihm: »Denn natürlich ist dein Selbstmord kein endgültiger; wir sind hier in einem magischen Theater, es gibt hier nur Bilder, keine Wirklichkeit.« (S. 165) Einerseits ist das Magische Theater also pure Fiktion. Andererseits ist es scheinbar möglich, die Bilder und Szenen aus dem Theater in Realität zu verwandeln. Die Anklage des Gerichts gegen Haller lautet, dass er den »schönen Bildersaal« des Theaters mit der »sogenannten Wirklichkeit« verwechselt und sich »humorlos« verhalten habe (S. 198). In Hesses »Steppenwolf« verschmelzen demnach Fiktion und Realität so stark miteinander, dass die Grenzen verwischen. Aus diesem Grund wird die Erzählweise des Romans auch als »surrealistisch« bezeichnet (Garland, 1997). 

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.