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Der Steppenwolf

S. 94-122 (Harry Hallers Aufzeichnungen)

Zusammenfassung

Beim Erwachen hat Haller seinen Traum von Goethe vergessen. Da kehrt auch das Mädchen, das er vorher kennengelernt hat, zu ihm zurück. Weil er noch immer nicht nach Hause gehen will, verschafft sie ihm ein Gästezimmer im Wirtshaus und sie verabreden sich für den nächsten Dienstag zum Abendessen.

Bevor sie sich von Haller verabschiedet, gibt sie ihm zu verstehen, dass sie seine Wut auf das Goethe-Bildnis zwar verstehen kann, er aber im Unrecht sei. Ihr selbst gehe es ähnlich mit Heiligen: Sie sei fasziniert von ihnen, aber könne ihre modernen Bildnisse häufig nicht ausstehen. Trotzdem wisse sie, dass auch ihre eigene Vorstellung von Heiligen nur ein (von ihr gemachtes) Menschenbild sei, die an das Urbild nicht heranreiche. Die ursprünglichen Heiligen selbst würden das Bild, das sie von ihnen hat, vermutlich für dumm befinden. So verhalte es sich auch mit Hallers Goethe.

Haller lässt sich auf sein Zimmer im Wirtshaus bringen. Er fühlt sich wiederbelebt, empfindet zum ersten Mal seit langem wieder etwas und schöpft Hoffnung, dass er vielleicht wieder ein Mensch werden kann. Die Gespräche mit Goethe und dem Mädchen haben ihm gutgetan.
Bei seiner Heimkehr trifft er auf seine Vermieterin (die Tante des Herausgebers), die ihn auf einen Tee in den Salon einlädt. Sie sitzen eine ganze Stunde lang beisammen und unterhalten sich über technischen Fortschritt. Entgegen seiner Gewohnheit spricht Haller nicht mit Bitterkeit und Hohn über diese Themen, sondern scherzhaft und spielend.

Er fiebert unterdessen dem Wiedersehen mit dem Mädchen entgegen. Sie bedeutet ihm sehr viel, jedoch ohne dass er in sie verliebt ist. Sie symbolisiert Hoffnung für ihn einen Ausweg aus seiner Situation. Er will, dass sie ihn befreit, und ihn entweder lehrt, richtig zu leben oder richtig zu sterben. Warum genau sie ihm dabei helfen soll, weiß Haller selbst nicht.

Beim Wiedersehen im Lokal bringt er dem Mädchen Blumen mit und erfährt endlich ihren Namen: Hermine. Sie vereinbaren, dass er ihr gehorchen soll. Hermine kündigt an, dass er viele Befehle von ihr erhalten werde und er sie alle werde ausführen müssen, ganz besonders auch ihren letzten: sie zu töten. Diesen Befehl aber wird sie ihm erst geben, wenn er sich in sie verliebt hat – nicht vorher.

Haller genießt seine Zeit mit Hermine: Er hat das Gefühl, dass sie ganz im Augenblick lebt, und dass sie ihn versteht. Vielleicht nicht alle seine komplexen Beziehungen zur Kunst, Musik und Literatur, aber doch all seine persönlichen Probleme und Anliegen. Er erzählt ihr vom Traktat des Steppenwolfs. Hermine kritisiert, dass oft so abfällig von Tieren geredet werde und merkt an, dass sie doch eigentlich viel aufrichtiger seien als Menschen. Ihre Meinung zum Traktat aber, auf die Haller so gespannt ist, äußert sie nicht. Stattdessen beschließen sie, dass Hermine dem eher skeptischen Haller Tanzen beibringen wird.
Am nächsten Tag sehen sie sich in einem Café wieder, wo Haller Hermine gegenüber eine leidenschaftliche Lobeshymne auf Pazifismus hält und Kritik an der Kriegsbegeisterung seiner Zeitgenossen übt. Hermine bezeichnet seine Einstellung als »Donquichotterie« (S. 112), als illusorisch. Ideale seien nicht dazu da, erreicht zu werden. Es sei nicht das Ziel, den Tod abzuschaffen, sondern seinetwegen das Leben noch mehr zu schätzen zu wissen.
Hermine beginnt, ihm das Tanzen beizubringen. Zu Anfang stellt er sich eher ungeschickt an, aber er bessert sich schnell. Schon bald nimmt sie ihn in ein Tanzlokal mit, wo sie auf einen gut aussehenden jungen Saxophonspieler namens Pablo treffen, einen Bekannten Hermines. Haller wird eifersüchtig auf ihn. Es ist aber keine gewöhnliche »Liebeseifersucht«, sondern vielmehr eine »Freundschaftseifersucht« (S. 115).

Ansonsten verläuft der Abend erfreulich: Hermine bringt Haller sogar dazu, ein Mädchen zum Tanz aufzufordern. Nur mit Pablo wird er nicht richtig warm. Für ihn ist er nichts weiter als ein oberflächlicher Jazzmusiker, der nichts über die Geschichte und Theorie von Musik weiß, und der lediglich gut darin ist, schön auszusehen. Im Gegenzug hält Pablo Haller für einen unglücklichen, bedauernswerten Menschen, der nicht lachen kann.
Hermine und Haller tanzen miteinander. Sie schlägt ihm eine Abmachung vor: Sie wird ihn Tanzen und Vergnügtsein lehren, wenn er ihr im Austausch Wissen beibringt. Hermine gibt zu, dass sie genauso einsam ist wie Haller und sie erkennen, dass sie Kameraden, Leidensgenossen sind. Hermine kann die kleinen Freuden des Lebens genießen und ist dennoch nicht zufrieden, genauso wie Haller seine Bildung und sein Wissen genießt, aber nicht zufrieden ist. Sie beide leiden und sind »Kinder des Teufels.« (S. 119)

Analyse

Durch Hermine lernt Haller nun eine ganz andere Seite des Lebens kennen. Sie macht es sich zur Aufgabe, ihm die kleinen Vergnügen des Lebens beizubringen, denen er bisher aus dem Weg gegangen ist, wie das Tanzen oder Flirten. Sie zeigt Haller, dass es im Leben auch Leichtigkeit und Unbeschwertheit gibt. Durch sie lernt er wieder, was es heißt, wirklich zu leben: »Plötzlich eine Türe offen, durch die das Leben zu mir hereinkam! Ich konnte vielleicht wieder leben, ich konnte vielleicht wieder ein Mensch werden.« (S. 97) Diese Fähigkeit zu leben hatte er im Laufe der letzten Jahre verlernt. Vielleicht hat er sie sogar niemals besessen.

Hermine tut ihm gut, er sehnt sich nach den Treffen mit ihr. Das aber liegt weniger an ihr selbst, sondern mehr an dem, was sie für ihn verkörpert: ein alternatives Leben, einen Ausbruch aus den Leiden und der Verzweiflung seines bisherigen Lebens: »Mochte dies kluge und geheimnisvolle kleine Mädchen sein, wer sie wollte, mochte sie auf diese oder auf jene Weise in diese Beziehung zu mir geraten sein, mir war es einerlei; sie war da, das Wunder war geschehen, daß ich nochmals einen Menschen und ein neues Interesse am Leben gefunden hatte!« (S. 101)

Hermine ist mehr als eine neue Freundin für ihn. Sie ist eine alternative Version seines Selbst. Das wird an mehreren Stellen deutlich, und ganz besonders dann, als Hermine sich am Essenstisch in Hallers Jugendfreund Hermann verwandelt. Nur dadurch kann er ihren Namen erraten, der nicht nur zufällig die weibliche Version Hermanns ist. Eine solche Tendenz, einen Charakter in zwei verschiedene Figuren aufzuteilen, ist typisch für Hesse. Auch in seinem Roman »Unterm Rad« stellt Hermann, der Freund des Protagonisten Hans, eine alternative Version von dessen Selbst dar. Damit bringt Hesse die Zerrissenheit zum Ausdruck, die so charakteristisch für seine Protagonisten ist. Außerdem wird häufig vermutet, dass Hesse auch immer sich selbst in seinen Figuren verarbeitet, und gerne auch gleich zwei Figuren Züge seines Ichs mitgibt. Gleichzeitig betonte Hesse, dass seine Figuren zwar autobiographische Züge haben, aber keine reinen Portraits von ihm darstellen (Vahlbusch, 2009). In Bezug auf seinen Roman »Unterm Rad« beispielsweise sagte er:

    Ihre Frage wegen des Heilner kann ich im großen Ganzen mit Ja beantworten, wenn auch hier wie überall zwischen erlebter Wirklichkeit und Dichtung manche Unterschiede, ja Gegensätze bestehen. Unterm Rad enthält viel Erlebtes, doch sind die einzelnen Erlebnisse teils verändert, teils auf verschiedene Figuren verteilt. So ist es auch mit Heilner, der zwar kein Jugendporträt ist, doch aber manche Züge meines damaligen Wesens bekommen hat. (Vahlbusch, 2009)

Etwas Ähnliches lässt sich auch über den »Steppenwolf« vermuten.

Als Alternative Version Hallers weiß Hermine ebenfalls, dass Haller sie braucht. »Du brauchst mich, um tanzen zu lernen, lachen zu lernen, leben zu lernen«, sagt sie zu ihm, »[i]ch aber brauche dich, nicht heute, später, auch zu etwas sehr Wichtigem und Schönem.« (S. 105) Das »Wichtige und Schöne«, wie sie später erklärt, ist der Tod. Sie braucht Haller also für genau die Tat, die er an sich selbst aus Furcht nicht begehen konnte. Mehr noch: Sie bezeichnet genau das als wichtig und schön, was für Haller nur erschreckend ist. Hermine sehnt sich nach dem Tod, Haller läuft vor ihm davon.

Denn Hermine hat erkannt, dass der Gedanke an den Tod das Leben bereichert: »Leben wir denn, wir Menschen, um den Tod abzuschaffen?«, fragt sie Haller und beantwortet ihre Frage prompt selbst: »Nein, wir leben, um ihn zu fürchten und dann wieder zu lieben, und gerade seinetwegen glüht das bißchen Leben manchmal eine Stunde lang so schön.« (S. 112) In Hermines Augen macht der Tod ihr Leben noch lebenswerter, in Hallers Augen macht er es grauenvoll.

Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensweisen aber ähneln beide einander sehr. Sie bezeichnen sich als »Geschwister« (S. 119). Beide sind unzufrieden mit ihrem Leben. Hermine besitzt die Fähigkeit zu lachen und zu tanzen, aber ist dennoch nicht glücklich. Haller hat Wissen und Bildung akkumuliert und ist trotzdem nicht glücklich. Indem sie sich gegenseitig ihre jeweiligen Fähigkeiten beibringen, hoffen sie, aus ihrer Unzufriedenheit herauszufinden.

Durch die Kombination aus Hermines Lehren und denen des Traktats wird Haller bewusst, dass er eigentlich mehr Seelen besitzt als nur die zwei, die er bisher wahrgenommen hat, die menschliche und die wölfische: »Der Steppenwolftraktat und Hermine hatten recht mit ihrer Lehre von den tausend Seelen, täglich zeigten sich neben all den alten auch noch einige neue Seelen in mir (…)« (S.121) Diese vielen anderen Seelen hat er lange Zeit als lästig empfohlen und unterdrückt. Nun aber werden sie freigesetzt.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr Hesses »Steppenwolf« den Bildungsromanen der Romantik ähnelt. Während die romantischen Protagonisten jedoch eine eher traditionelle Bildung erhalten und sich auf geographische Reisen begeben, ist das Ziel, das Haller erreichen soll, ein inneres (Cornils, 2009). Hallers Ziel ist keine klassische Bildung, sondern die Entdeckung seiner tausend Ichs. Auf der Basis der Lehren des Traktats und mit Hermine als Lehrerin durchläuft Haller gewissermaßen eine psychoanalytische Bildungsreise. Eine solche Tendenz ist nicht nur im »Steppenwolf«, sondern in vielen Romanen Hesses zu beobachten. Auch Hans Giebenrath in »Unterm Rad« durchläuft eine Bildungsreise, indem er sich ironischerweise von der klassischen Bildung entfernt, und die Natur für sich entdeckt.

Haller lässt nun, wie es ihm das Traktat und Hermine nahelegen, sein altes Ich hinter sich, er ekelt sich inzwischen regelrecht davor. »Pfui Teufel, er war zum Erbrechen, dieser Herr Haller!«, denkt er (S. 122). Er ist angewidert von der Vernunft und Disziplin, mit der er sein bisheriges Leben gelebt hat. Jetzt erkennt er auch, dass er eigentlich genauso heuchlerisch gewesen ist wie der alternde Goethe: »Er selbst, der alte Harry, war genau solch ein bürgerlich idealisierter Goethe gewesen, so ein Geistesheld mit allzu edlem Blick, von Erhabenheit, Geist und Menschlichkeit strahlend wie von Brillantine und beinahe über den eigenen Seelenadel gerührt!« (S. 123) Er hat vorgegeben, dem Bürgertum und seinen Normen zu trotzen, während er eigentlich genau das Leben gelebt hat, das das Bürgertum von ihm erwartet.

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.