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Der Steppenwolf

S. 65-94 (Harry Hallers Aufzeichnungen)

Zusammenfassung

Haller hat das Traktat zu Ende gelesen und beginnt, darüber nachzudenken. Der Inhalt erinnert ihn sehr an ein Gedicht, das er vor Kurzem verfasst hat, und in dem er sich als vereinsamten Wolf auf der Jagd nach Rehen darstellt. Seine Seele hat er, der Wolf Haller, dem Teufel versprochen. Haller vergleicht nun seine Sichtweise auf sich selbst, wie er sie im Gedicht zum Ausdruck gebracht hat, mit derjenigen, die der anonymer Verfasser des Traktats auf ihn zu haben scheint. Er findet, dass ihn beide Darstellungen gut treffen, denn sie spiegeln beide die Unerträglichkeit seines Lebens wider.

Er beschließt, dass er entweder sterben oder sein Leben neu erfinden muss. Letzteres hat er im Laufe der Jahre schon des Öfteren versucht, aber jedes Mal ist der Versuch in einer Katastrophe geendet. Immer ist ihm dabei ein Teil von seinem Leben verloren gegangen. So ist Haller im Laufe der Zeit beruflos, heimatlos und familienlos geworden. Er hat sich immer weiter von der bürgerlichen Welt distanziert, aber gleichzeitig hat er den Absprung in die künstlerische Welt nicht geschafft.

Haller ist es deshalb leid, sein Leben neu zu gestalten, denn bei jedem dieser Versuche hat er gleichzeitig einen Teil seiner Persönlichkeit vernichtet. Er sieht zwei Möglichkeiten vor sich: Entweder verbringt er den Rest seines Lebens in unendlichem Leid, oder er bringt sich unverzüglich um und erleidet lediglich einen kurzen Schmerz. Der Selbstmord erscheint ihm deutlich attraktiver, und Haller beschließt, die Tat bald durchzuführen.

Unterdessen lassen Haller die Gedanken an das Magische Theater nicht los. Er fühlt sich von den Worten »Nur für Verrückte« angesprochen, und findet, dass sich die Aufforderung zum Verrücktsein und zur Hingabe an die Phantasie mit der Botschaft des Traktats deckt. Oft fantasiert er ganze Stunden über das mysteriöse Theater. Er versucht, den Mann mit dem Plakat wiederzufinden, und glaubt, ihn unter den Gästen einer Beerdigung ausfindig zu machen. Haller spricht den Mann an und dieser rät ihm, zur Abendunterhaltung in den Schwarzen Adler zu gehen. Haller ist sich zwar nicht mehr sicher, ob er wirklich der Mann mit dem Plakat war, folgt aber trotzdem seinem Ratschlag.

Auf dem Weg begegnet er einem jungen Professor, mit dem er früher gelegentlich Gespräche geführt hat. Der Professor ist begeistert, ihn wiederzusehen, und lädt ihn sogleich zum Abendessen zu sich und seiner Frau nach Hause ein. Haller ist unschlüssig, ob er die Einladung annehmen soll oder nicht. Seine wölfische und menschliche Seite streiten miteinander. Die menschliche Seele nimmt die Einladung an, da sie sich nach Gesellschaft sehnt, und noch am selben Abend erscheint Haller, rasiert und in perfekter bürgerlicher Kleidung, beim Professor – wofür ihn seine wölfische Seele innerlich verspottet. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass die meisten Menschen jeden Tag so leben wie er an diesem Abend, ohne ihr sinnloses, mechanisches Leben zu hinterfragen.

Der Abend verläuft in perfekter bürgerlicher Manier, es werden Höflichkeiten ausgetauscht und die Gespräche kreisen um Politik und das Weltgeschehen. Haller aber fühlt sich von Sekunde zu Sekunde weniger wohl: Er fühlt sich unter Druck gesetzt. Es kommt ihm vor, als lüge er beständig, seine Witze wollen ihm nicht gelingen und er schneidet die falschen Gesprächsthemen an. Der Professor, seine Frau und Haller werden immer schweigsamer. Als Haller schließlich eine Radierung Goethes, die der Frau des Professors gehört, kritisiert (sie sei nicht authentisch), endet der Abend abrupt. Haller erklärt, ihm lägen jegliche wissenschaftliche Gespräche eigentlich sehr fern, und verabschiedet sich prompt aus der Wohnung des Professors.

Haller läuft danach aufgewühlt und ziellos durch die Stadt. Er will sich noch in derselben Nacht umbringen, hat aber Schwierigkeiten, sich dazu durchzuringen. Schließlich kommt er doch noch im Schwarzen Adler an. Dort trifft er auf ein hübsches junges Mädchen, das mit ihm redet, ihm etwas zum Essen bestellt, und ihn zum Tanz auffordert. Das Mädchen durchschaut Haller schnell: Sie erkennt, dass er sich im Leben gern immer den komplizierten Dingen gewidmet hat, nie aber einfachen, vergnüglichen Aktivitäten wie beispielsweise dem Tanzen. Er erzählt ihr von seinem gescheiterten Abend beim Professor und sie versteht ihn auf Anhieb, sogar seinen Ärger über die falsche Goethe-Darstellung. Ebenfalls aber nennt sie ihn einen Kindskopf und kleinen Bub, der noch nicht gelernt hat, seine Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Das Mädchen verabschiedet sich für einige Minuten von Haller und rät ihm, in der Zwischenzeit ein wenig zu schlafen: Das tut Haller und träumt prompt, er sei als Korrespondent einer Zeitschrift bei Goethe eingeladen. Korrespondent Haller wirft Goethe vor, zu wichtigtuerisch und zu wenig aufrichtig zu sein. Goethe habe die Aussichtslosigkeit und die Verzweiflung des Menschseins erkannt, habe jedoch sein ganzes Leben lang Optimismus gepredigt. Er habe so getan, als seien das Anhäufen von Wissen und geistige Anstrengungen sinnvoll. Dem sei aber nicht so. Zum Ende des Traums verwandelt sich der alte Goethe in seine jüngere Version und rät Haller, den Alten nicht zu ernst zu nehmen.

Analyse

Das Traktat stimmt Haller sehr nachdenklich: Zunächst fühlt er sich in seiner eigenen Sichtweise auf sich selbst bestätigt. Er schreibt:

    Da hatte ich nun zwei Bildnisse von mir in Händen, das eine ein Selbstbildnis in Knittelversen, traurig und angstvoll wie ich selbst, das andre kühl und mit dem Anschein hoher Objektivität gezeichnet, von einem Außenstehenden, von außen und von oben gesehen, geschrieben von einem, der mehr und doch auch weniger wußte als ich selbst. (S. 66)

Haller findet, dass sowohl sein Gedicht als auch das Traktat die »Unerträglichkeit und Unhaltbarkeit« seines Zustandes (S. 66) zum Ausdruck bringen.

Im Laufe der nächsten Stunden aber ändert er seine Meinung. Er beginnt zu glauben, dass das Traktat ihm nicht gerecht wird. Es abstrahiert zu sehr und ordnet ihn in eine Kategorie von Menschen – Steppenwölfen – ein, ohne ausreichend auf seine individuellen Lebensumstände einzugehen: »Was da von Steppenwölfen und Selbstmördern geschrieben stand, mochte ganz gut und klug sein, es galt für die Gattung, für den Typus, war geistreiche Abstraktion; meine Person hingegen, meine eigentliche Seele, mein eigenes, einmaliges Einzelschicksal schien mir mit so grobem Netze doch nicht einzufangen.« (S. 70)

Haller überlegt nun, ob und wie er weiterleben soll, und dabei wird erneut deutlich, welch große Schwierigkeiten er hat, seine volle Persönlichkeit auszuleben. Sein ganzes Leben lang hat er versucht, seine zwei Seelen zu vereinen und damit sein Leid zu beenden. Aber jedes Mal, wenn er einen entsprechenden Versuch unternahm, wurde sein Leid nur noch größer: »(…) mein ganzes Denken, mit dem ich einst als ein begabter und beliebter Mann geglänzt hatte, war jetzt verwahrlost und verwildert und den Leuten verdächtig.« (S. 67) Haller hat es weder geschafft, seine künstlerische und wölfische Seite auszuleben, noch seine bürgerliche und menschliche. Eine Vereinigung dieser beiden Seelen erscheint ihm unmöglich. Das Einzige, was nun noch bleibt, ist der Selbstmord, vor dem er sich allerdings fürchtet. Denn trotz allem hängt Haller noch sehr am Leben und ist noch nicht ganz bereit aufzugeben.

Dazu trägt mitunter auch das Magische Theater bei. Haller fühlt sich von ihm so sehr angezogen, dass er auf der Suche nach dem Eingang die ganze Stadt durchstreift. Er identifiziert sich mit den »Verrückten«, für die das Magische Theater zugänglich sein soll, und will »die Aufforderung zum Verrücktsein, zum Wegwerfen der Vernunft, der Hemmung, der Bürgerlichkeit, zur Hingabe an die flutende gesetzlose Welt der Seele, der Phantasie« (S. 70) gern erhören. Das Magische Theater spricht die wölfische, künstlerische Seele in ihm an, welche auszuleben er sich niemals richtig getraut hat.

Aus »dem beflügelten Jüngling, dem Dichter, dem Freund der Musen, dem Weltwanderer, dem glühenden Idealisten« (S. 73), der er einmal war, ist ein vereinsamter und emotionsloser alter Mann geworden. Doch noch immer kämpfen die beiden Seelen in ihm gegeneinander an. Besonders deutlich wird dieser innerliche Kampf während seines Gesprächs mit dem Professor.

Haller schreibt wortwörtlich, dass, als er vor dem Professor stand, eigentlich zwei Harrys dort standen und einander verhöhnten: die zwei Hälften seiner Persönlichkeit. Seine Zerrissenheit geht so tief, dass er sich nicht mehr als eine Person wahrnimmt. So beschreibt er sich später beim Abendessen auch als »schizophren« (S. 80).

Jenes Abendessen beim Professor muss deshalb unweigerlich zum Desaster werden: Der Professor und seine Frau dienen als Personifikationen der Bürgerlichkeit, ihre Wohnung als Hochburg der Bourgeoisie: »Hier waren schön stilisierte Altmeister und nationale Größen zu Hause, keine Steppenwölfe.« (S.77) Hallers innerliche Zerrissenheit erreicht hier ihren Höhepunkt. Einerseits verspürt er die Notwendigkeit, sich an sein bürgerliches Umfeld anzupassen, andererseits will ihm genau das nicht gelingen. Daran verzweifelt er immer weiter, bis der Druck in ihm irgendwann zu groß wird und er überstürzt die Wohnung verlässt. Für ihn ist der Abend ein »letztes Mißlingen und Davonlaufen, war mein Abschied von der bürgerlichen, der moralischen, der gelehrten Welt, war ein vollkommener Sieg des Steppenwolfes.« (S. 81).

Eine besonders interessante Rolle kommt in diesem Abschnitt der Figur des Dichters Goethe zu. Haller sieht in Goethe sich selbst: Eigentlich, so denkt er, hat Goethe etwas Wildes, Feuriges in sich, das in zeitgenössischen Darstellungen von ihm jedoch häufig vertuscht wird. Das kritisiert er auch an der Radierung in der Wohnung des Professors. Sie suche aus dem »dämonischem Alten« einen »wahrhaft schönen alten Herrn zu gestalten, welcher jedem Bürgerhause zum Schmuck gereichen konnte.« (S. 77) Haller ärgert sich über die mangelnde Authentizität der Darstellung und diesen Ärger äußert er nicht nur gegenüber dem Professor, sondern auch später in seinem Traum. Dort steht er dem alten Goethe gegenüber und bezichtigt ihn der Unaufrichtigkeit. Er fühlt sich vom alten Goethe verraten, der viel angepasster, viel bürgerlicher ist als dessen jüngeres Selbst, welches noch den feurigen und wilden Charakter eines Künstlers besaß.

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.