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Der Steppenwolf

S. 4-21 (Vorwort des Herausgebers)

Zusammenfassung

Der Roman beginnt mit dem Vorwort eines anonymen Herausgebers. Er möchte über einen Mann namens Harry Haller erzählen, der von allen nur, einschließlich ihm selbst, der »Steppenwolf« genannt wurde. Vom Steppenwolf hat der Herausgeber ein Manuskript erhalten und fühlt sich jetzt, da er dieses zu veröffentlichen gedenkt, dazu berufen, ein ergänzendes Vorwort hinzuzufügen:

Haller sei ein fast 50jähriger Mann gewesen, der vor einigen Jahren für zehn Monate im Haus der Tante des Herausgebers ein Zimmer gemietet habe. Er habe sehr still vor sich hin gelebt und sei in höchstem Grade ungesellig gewesen. Der Herausgeber lernte ihn nur in wenigen kurzen Gesprächen kennen, behauptet aber, dass das Bild, das er aus diesen Gesprächen über Haller gewonnen habe, mit dem übereinstimme, was sich aus dem Lesen seines Manuskripts ergebe.

Haller sei einerseits sehr temperamentvoll, andererseits leicht schwächlich und unentschlossen erschienen, aufgrund einer nicht benannten Krankheit. Zudem habe er den Eindruck vermittelt, er komme aus einer fremden Welt, und finde die hiesige ein wenig komisch. Er habe stets leicht abwesend gewirkt, als sei er eigentlich mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen.

Gleichzeitig habe sich Haller gut an seine Umgebung angepasst; er sei höflich, bodenständig und freundlich gewesen. Außerdem habe er andere Leute schnell für sich einnehmen können. So habe er beispielsweise die Tante des Herausgebers bezaubert, die sich trotz der Fremdartigkeit Hallers und seiner Bitte, seine Untermiete nicht polizeilich zu melden (wie es sich eigentlich gehört hätte) sofort entschieden habe, ihm ein Zimmer zur Miete anzubieten. Der Herausgeber selbst sei Haller gegenüber zunächst noch ein wenig skeptisch eingestellt geblieben.

Sein Misstrauen habe sich aber als unbegründet herausgestellt: Haller sei ein einwandfreier Mieter gewesen. Der Herausgeber und seine Tante denken auch nach seinem Verschwinden noch immer gern an ihn zurück. Dennoch fühlt sich der Herausgeber im Nachhinein von der Gestalt Hallers gestört und beunruhigt, sie erscheint ihm sogar in seinen Träumen.

Der Herausgeber denkt noch ein wenig weiter an seine spärlichen Interaktionen mit Haller zurück. Er sei ein begabter Mann mit einem sensiblen Seelenleben gewesen, der oft unkonventionelle Ansichten geäußert habe. Wenn das aber der Fall gewesen sei, habe er es mit einer solchen Gewissheit und Sachlichkeit getan, dass man seine Aussagen nicht hinterfragen konnte. Außerdem schien es, als habe Hallers Blick die gesamte Gesellschaft, ihre Heuchelei und Oberflächlichkeit, durchdrungen. Er habe der Menschheit bis ins Herz gesehen und die Mängel und Hoffnungslosigkeit seiner gegenwärtigen Zeit erkannt. Kritik aber habe Haller nicht nur an der Gesellschaft, sondern vor allem auch an sich selbst geübt. Nun erklärt sich auch seine bisher nicht benannte Krankheit: Haller sei ein »Genie des Leidens« (S. 11) gewesen.

Nach einer generellen Analyse der Persönlichkeit Hallers beginnt der Herausgeber mit Schilderungen von dessen Verhaltensweisen. Haller sei ein Büchermensch gewesen und dementsprechend habe er auch sein Zimmer eingerichtet, es sei voll von internationaler Literatur (Dostojewski und Novalis) und gesammelter Objekte gewesen. Er habe sehr ungleichmäßig und launisch gelebt, ohne eine erkennbare Routine.

Bis der Herausgeber zum ersten Mal mit ihm ins Gespräch gekommen sei, habe es eine Weile gedauert, aber von da an unterhielten sie sich immer ein wenig, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Der Herausgeber stellte fest, dass Haller die kleine bürgerliche Welt von ihm und seiner Tante liebte und bewunderte, insbesondere weil er selbst, Haller, keinen Zugang zu dieser Welt gefunden habe. Abgesehen von seinen Gesprächen mit dem Herausgeber, gelegentlichen Abstechern in Gasthäuser und zu ausgewählten Veranstaltungen habe Haller sehr einsam gelebt, nur gelegentlich habe er von einer jungen hübschen Dame Besuch bekommen, die wohl seine Geliebte gewesen sei, und mit der er sich an einem Abend heftig gestritten habe.

Kurz vor seiner Abreise habe Haller dem Herausgeber ein Manuskript übergeben, das voller wunderlicher und phantastischer Erlebnisse gewesen sei. Der Herausgeber vermutet, dass diese zwar nicht Realität seien, dafür aber ein Versuch Hallers, seinen Empfindungen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Er schlussfolgert, dass sie auf wahren Begebenheiten basieren, aber abstrahiert worden sind. Sie sollen, so glaubt er, die »große Zeitkrankheit« (S. 20),die »Neurose jener Generation« (S. 20) zum Ausdruck bringen, der auch Haller angehört, und die insbesondere diejenigen befällt, die ein künstlerisches Leben dem bürgerlichen vorziehen.

Analyse

Der Protagonist Harry Haller, dessen Aufzeichnungen den Hauptteil des Romans darstellen werden, wird zunächst aus der Perspektive eines anonymen Herausgebers vorgestellt. Diese Einführung, die sich aus Anekdoten über Haller und psychologischen Analysen des Herausgebers zusammensetzt, vermittelt uns einige essenzielle Informationen über Haller, sein Wesen und Leben. Die Perspektive des anonymen Herausgebers ist insofern besonders interessant, als dass es sich bei ihm um eine Person handelt, die sich von Haller stark unterscheidet. Der Herausgeber und seine Tante gehören einer gewöhnlichen bürgerlichen Sphäre an, Haller hingegen führt das Leben eines Künstlers.

Dass er im Folgenden lediglich »der Steppenwolf« genannt wird, und sich auch selbst so nennt, ist bereits bezeichnend. Auf diese Weise wird Haller von der ersten Seite an als Außenseiter dargestellt, als ein Wolf, der nicht in die bürgerliche Welt gehört, in welcher der Herausgeber und seine Tante leben: »Ein zu uns, in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf – schlagender konnte kein andres Bild ihn zeigen, seine scheue Vereinsamung, seine Wildheit, seine Unruhe, sein Heimweh und seine Heimatlosigkeit.« (S. 17)

Haller lebt sein ganzes Leben in einer Art Zwiespalt. Er befindet sich zwischen zwei Welten: dem bohemischen, freien Künstlertum und dem rationalen, modernen Bürgertum. Schon bei seiner Ankunft im Haus des Herausgebers macht Haller auf ihn einen zerrissenen Eindruck: »Ich habe den sonderbaren und sehr zwiespältigen Eindruck nicht vergessen, den er mir beim ersten Begegnen machte.« (S. 5) Diese Zwiespältigkeit Hallers wird im Laufe des Vorworts noch an vielen Stellen hervortreten.

Einerseits ist Haller ein Künstler und freier Geist, er ist begabt, sein Gesicht intelligent und nachdenklich. Häufig äußert er unkonventionelle Ansichten, die er sehr überzeugend und mit großer Sachlichkeit zum Ausdruck bringt, und auch für eine konventionelle Karriere scheint er sich nicht sonderlich zu interessieren. Sein Tagesrhythmus ist unregelmäßig, er lebt ein freies, spontanes Leben. Andererseits versucht Haller auch, sich an den Lebensstil der Bourgeoisie anzupassen: Er verhält sich freundlich, höflich und charmant, und er erregt kein weiteres Aufsehen.

Schon auf den ersten Seiten ist zu erkennen, dass Haller krank ist: »[…] ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden.« (S. 10) Einige Zeit lässt der Herausgeber seine Leser über Hallers Krankheit im Unklaren, bis er sie aufklärt, dass es sich dabei um eine Neurose handelt. Haller leidet, weil es ihm nicht gelingt, sich an die Zeit, in der er lebt, anzupassen.

Denn Haller lebt »zwischen zwei Zeiten« (S. 21) und leidet an der Neurose, an der unweigerlich alle leiden müssen, die wie er zwischen zwei Zeiten leben. Das Schicksal solcher Menschen sei es, der Menschheit bis auf den Grund sehen und alle Fehler und Mängel ihrer Gesellschaft erkennen zu können. Dadurch werde das Leben für sie zur Qual. Haller selbst sagt über solche Menschen: »Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. (…) Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht. Natürlich spürt das nicht ein jeder gleich stark.« (S. 21) Wie aus dem Vorwort des Herausgebers hervorgeht, ist Haller, wie alle begabten Individuen, einer derjenigen, die es besonders stark spüren.

Haller kann durch die Oberflächlichkeit und Heuchelei seiner Zeitgenossen hindurchsehen, sein Blick durchdringt die »ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit, unsrer Kultur.« (S. 9) Er befindet sich zwischen zwei Welten, und da er es weder schafft, vollkommen in der einen oder anderen zu leben, leidet er an der »großen Zeitkrankheit« seiner Generation (S. 20).

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.