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Der Steppenwolf

S. 176-200 (Harry Hallers Aufzeichnungen)

Zusammenfassung

Die nächste Tür, die Haller öffnet, trägt die Aufschrift »Anleitung zum Aufbau der eigenen Persönlichkeit. Erfolg garantiert.« Hinter der Tür erwartet ihn ein dunkler Raum. Darin sitzt ein Mann vor einem Schachbrett auf dem Boden, der Haller an Pablo erinnert. Er behauptet aber, er sei niemand, trage keinen Namen und sei lediglich ein Schachspieler.

Der Schachspieler fragt ihn, ob er Unterricht über den Aufbau seiner Persönlichkeit wünsche. Als er bejaht, fordert er von ihm »ein paar Dutzend seiner Figuren.« Damit meint er ein Dutzend von den Ichs, aus denen Hallers Persönlichkeit besteht. Mit ihnen will er auf seinem Schachbrett spielen. Damit will er Haller die sogenannte Aufbaukunst vor Augen führen. Diese besagt, dass all diejenigen, die das Auseinanderfallen ihres Ichs erlebt haben, die Stücke ihres Ichs entgegen den Behauptungen der Wissenschaft jederzeit wieder neu zusammensetzen können.

Er beginnt nun damit, ein Schachspiel nach dem anderen aufzubauen und zu verwerfen. Jedes Mal stellen die Figuren darauf mehrere verschiedene Ichs von Haller selbst dar. Der Schachspieler erklärt, dass die Verrücktheit der Anfang der Weisheit, und die Schizophrenie der Anfang aller Kunst und Phantasie sei. Haller darf nun selbst mit dem Schachbrett spielen.

Die nächste Tür trägt die Aufschrift »Wunder der Steppenwolfdressur«. Hinter ihr verbirgt sich eine mit Gitterstäben abgetrennte Jahrmarktbühne, hinter der ein Dresseur einen Wolf auf und ab führt. Der Mann weist große Ähnlichkeit mit Haller auf. Anders als jener aber hat er es geschafft, seinen Steppenwolf perfekt zu dressieren – er macht jeden Trick mit. Nach einer Weile tauschen Hallers »Zerrspiegelzwilling« (S. 180) und der Wolf die Rollen. Nun dressiert der Wolf seinen Menschen.

Hinter einer weiteren Tür (»Alle Mädchen sind dein«) erwarten Haller die leidenschaftlichen und feurigen Gefühle seines jüngeren Ichs. Hier erlebt er eine Stunde aus seiner Jugend wieder, in der er auf einem einsamen Spaziergang ein Mädchen namens Rosa Kreisler getroffen und sich umgehend in sie verliebt hatte. Diese Erinnerung ist nur die erste, die er aufs Neue durchlebt; nach ihr folgen die Erinnerungen an sein gesamtes Liebesleben.

Auf der nächsten Tür steht: »Wie man durch Liebe tötet«. Von irgendwoher erklingt eine schauerlich anmutende Melodie aus Mozarts »Don Juan«. Kurz danach tritt auch Mozart selbst auf und erklärt, sie befänden sich im letzten Akt seiner Oper. Während Haller und er miteinander reden, ziehen einige Musiker der letzten Jahrhunderte an ihnen vorbei, die laut Mozart nun im Jenseits für ihre musikalischen Sünden büßen müssten. Haller wird wütend, packt den lachenden Mozart beim Schopf und schleudert ihn von sich.

Hinter einer weiteren Tür findet Haller Hermine und Pablo vor, die ganz offensichtlich miteinander geschlafen haben. Haller stößt Hermine ein Messer in die Brust. Kurz darauf wacht Pablo auf, lächelt, deckt Hermine zu, und geht von dannen. Haller kniet neben der Toten nieder: Er hat ihren Wunsch erfüllt, getötet zu werden. Aber nun, da er es getan hat, ist er sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt richtig war.

Mozart kehrt zurück und dreht ein Radio auf. Er behauptet, wenn Haller der Musik darin zuhöre, werde er den »Urkampf zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Göttlichem und Menschlichem« hören (S. 196). Dieser Urkampf spiegelt sich darin wider, dass im Radio auf Musik von Händel Nachrichten über industrielle Betriebe folgten. Das Radio schiebe moderne Technik und Fortschritt zwischen das menschliche Ohr und die zauberhaften Klänge des Orchesters. Kurz gefasst: Es vermische Tradition und Moderne. Mozart erklärt, dass das ganze Leben so funktioniere wie das Radio, und dass Haller lernen müsse, darüber zu lachen.

Hinter der letzten Tür (»Harrys Hinrichtung«) erwartet Haller ein Gericht. Der Staatsanwalt wirft ihm vor, das Magische Theater mit der Wirklichkeit verwechselt und einem Mädchen zum Selbstmord verholfen zu haben. Haller wird in dreifacher Weise bestraft: Er wird zum ewigen Leben verurteilt, darf zwölf Stunden lang das Theater nicht betreten, und wird vom Gericht schallend ausgelacht. Nach seinem Gerichtsverfahren trifft er noch einmal auf Mozart, der ihn daran erinnert, dass er noch immer den »Galgenhumor« (S. 197) des Lebens erlernen müsse. Alles, was man von ihm verlange, sei, lachen zu lernen. Mozart verwandelt sich schließlich in Pablo, der enttäuscht ist, dass Haller die Spielregeln seines Theaters nicht verstanden hat. Haller nimmt sich vor, dass er irgendwann das Lachen lernen und bei seinem nächsten Besuch im Magischen Theater alles besser machen wird.

Analyse

Bisher hat Haller viele theoretische Lehren über das Leben erhalten: aus dem Traktat, von Hermine und Pablo. Im Magischen Theater aber werden diese Lehren nun in die Praxis umgesetzt. Hinter jeder Tür, die Haller durchschreitet, verbirgt sich eine vollständige Welt, und jede dieser Welten soll ihm etwas beibringen oder einen zusätzlichen Teil seiner Persönlichkeit zum Vorschein bringen.

So hat es sich beispielsweise der Schachspieler zur Aufgabe gemacht, Haller die Lehre der tausend Ichs zu verinnerlichen. Sein Schachbrett veranschaulicht, wie das Ich eines Menschen eigentlich aus ganz vielen Ichs besteht, und wie diese im Laufe des Lebens immer wieder zu einer neuen Persönlichkeit angeordnet werden können. Das nennt er »Aufbaukunst«. Er erklärt: »Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens erzielen kann.« (S. 178)

Auf diese Weise wird die tausendfache Spaltung des Ichs nicht belastend, wie es bis jetzt für Haller der Fall gewesen ist, sondern bereichernd: »So wie die Verrücktheit, in einem höhern Sinn, der Anfang aller Weisheit ist, so ist Schizophrenie der Anfang aller Kunst, aller Phantasie.« (S. 179) Haller muss lernen, seine Schizophrenie zu seinen Gunsten zu nutzen. Er muss seine Verrücktheit akzeptieren und sich ständig neu erfinden.

Die Tür, hinter der Haller sein gesamtes Liebesleben noch einmal neu durchlebt, dient wiederum dazu, ihn an eines seiner Ichs zu erinnern, das er bis dahin verdrängt hatte: das jugendlich liebende, leidenschaftliche Ich. Er hat vergessen, wie sich richtige Leidenschaft anfühlt, aber nun weiß er es wieder: »O, wie brannten die vergessenen Feuer wieder auf, wie schwellend und dunkel klangen die Töne des Ehemals, wie blühte es flackernd im Blut, wie schrie es und sang in der Seele!« (S. 182)

Diese Lehre ist von hoher Bedeutung für Haller. Durch sie lernt er wieder uneingeschränkt zu lieben, und zwar »unbeschwert von allen den andern Figuren meines Ichs, ungestört vom Denker, ungequält vom Steppenwolf, ungeschmälert vom Dichter, vom Phantasten, vom Moralisten.« (S. 186) Es ist diese Lehre, die ihn darauf vorbereiten soll, Hermine später aus Eifersucht zu töten. Ob der letztendliche Mord an ihr aber wirklich aus Eifersucht geschieht, oder weil er sein Versprechen an sie erfüllen will, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor – auch wenn Letzteres wahrscheinlicher erscheint.

Die wichtigste Lehre, die ihm im Magischen Theater beigebracht werden soll, ist das Lachen. Er soll den Humor erlernen, um das Leben fortan nicht mehr zu ernst zu nehmen.
Allerdings hat sich die Definition des Humors im Laufe des Romans leicht verändert. Im Traktat noch galt er als etwas, das dem Bürgertum angehört, und das Haller in einer Vernunftehe (S. 55) mit dem Streben nach der Welt der Unsterblichen vereinbaren sollte. Zunehmend aber wird das Lachen vor allem zu einer Eigenschaft der Unsterblichen (Jens & Radler, 2001). In Hallers vorangegangenem Traum lachte Goethe ihn aus, und nun tut Mozart das Gleiche, wenn er im Magischen Theater in ein hysterisches Lachen ausbricht und Haller, der es noch nicht versteht, mitzumachen, ihn am Zopf packt und von sich schleudert. So spielt Mozart eine tragende Rolle in der Vermittlung des Humors an Haller.

Mozart nutzt eine Metapher, um Haller die groteske Natur des Lebens und die daraus entstehende Notwendigkeit des Humors zu erklären. Diese Metapher ist das Radio: Es »schiebt seine Technik, seine Betriebsamkeit, seine wüste Notdurft und Eitelkeit überall zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Orchester und Ohr.« (S. 196) In anderen Worten: Das Radio vermischt Tradition und Moderne. Laut Mozart verhalte sich das ganze Leben so wie das Radio, und daher müsse Haller lernen, darüber zu lachen. Mit der Wahl des Radios als Metapher hat Mozart eine äußert passende Metapher gefunden. Das Radio, das um die Jahrhundertwende herum erfunden wurde, kann als Inbegriff des technischen Fortschritts in Hallers Zeiten, also dem 20. Jahrhundert gesehen werden. Noch dazu ist es eines der Massenmedien, die Haller so sehr verabscheut. Dass Haller nun gerade am Beispiel des Radios etwas über das moderne Leben lernen soll, ist nicht ohne Ironie. Es stellt ihn vor die ultimative Herausforderung, die Moderne mit einem Lachen zu akzeptieren – wie Mozart es ihm vormacht.

Aber Haller scheitert, er sperrt sich der Akzeptanz der Moderne und dem Humor. Die Anklage des Gerichts gegen ihn lautet, dass er den »schönen Bildersaal« des Theaters mit der »sogenannten Wirklichkeit« verwechselt und sich »humorlos« verhalten hat (S. 198). Zur Strafe für seine Humorlosigkeit wird er ausgelacht. Auch Pablo und Mozart zeigen sich enttäuscht, dass Haller die wichtigste Fähigkeit, das Lachen, noch immer nicht erlernen wollte. Deshalb nimmt er sich vor, es beim nächsten Mal besser zu machen: »Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen.« (S. 200) Mit diesen Worten enden Hallers Aufzeichnungen.

Ob Haller es im Magischen Theater wirklich nicht geschafft hat, die Wirklichkeit loszulassen, ist allerdings umstritten. Einerseits besagt das Urteil des Gerichts, dass er genau das nicht geschafft hat. Andererseits gibt es Stimmen in der Literaturwissenschaft, die das Gegenteil argumentieren. Swales (2009) beispielsweise stellt fest, dass eigentlich vom Text keinerlei Anlass gegeben wird, anzunehmen, dass Haller die Welt des Unwirklichen verlassen hat. Denn wäre das der Fall, müsste er reale Emotionen wie Eifersucht oder Wut verspüren, doch davon ist an keiner Stelle die Rede. Haller hat lediglich eine weitere Tür des Theaters durchtreten, und müsste sich deshalb eigentlich noch im Rahmen der Fiktionalität befinden (ebd.). In diesem Sinne wäre das Urteil des Gerichts fehlerhaft. Aufgrund der verschiedenen Herangehensweisen an diese Frage ist eine eindeutige Antwort auf die Richtigkeit des Urteilsspruchs nicht möglich.

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.