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Der Steppenwolf

S. 147-176 (Harry Hallers Aufzeichnungen)

Zusammenfassung

Hermine hat Haller dazu überredet, gemeinsam mit ihnen allen auf einen Kostümball, den vornehmsten der Stadt, zu gehen, der alljährlich in den Sälen der Künstlerschaft veranstaltet wird. Der Tag des Balls ist nun gekommen und der nervöse Haller versucht sich die Zeit bis zum Abend zu vertreiben. Dabei geht er unter anderem ins Kino, wo er einen Film über Moses sieht.

Schließlich begibt er sich zum Maskenball, der bereits in vollem Gange ist, und wo sich viele Künstler, Gelehrte, Journalisten und Geschäftsleute versammelt haben, sowie »die ganze Lebewelt der Stadt« (S. 151). Er sucht vergeblich nach Hermine und Maria. Ansonsten findet er den Ball grauenvoll, das ausgelassene Tanzen und die Vergnügen kommen ihm dumm und erzwungen vor. Um ein Uhr morgens beschließt er wieder zu gehen.

Bevor er allerdings gehen kann, drückt ihm ein als Teufel verkleideter Mensch einen Zettel in die Hand, auf dem steht:

                Heut nacht von vier Uhr an magisches Theater

                      – nur für Verrückte –

                    Eintritt kostet den Verstand.

                Nicht für jedermann. Hermine ist in der Hölle.

Nach dieser Botschaft fühlt sich Haller plötzlich wiederbelebt und stürzt sich voller Leidenschaft zurück in das Getümmel des Balls. Dort findet er nach einiger Zeit auch Hermine, die an diesem Abend keine Damen-, sondern Herrenkleider trägt. Sie reden viel und machen sich einen Spaß daraus, gemeinsam um Frauen zu werben und dabei als Nebenbuhler aufzutreten. Er findet Hermine verführerischer denn je. Von nun an erlebt er den Abend wie einen glücklichen, märchenhaften Traum und Rausch. Er fühlt, dass sich sein Selbst auflöst und mit der Masse der Menschen verbindet. Alles verschmilzt miteinander.

Zum Ende der Nacht hin tanzt er mit Hermine und stellt fest, dass er sich in sie verliebt hat. Sie tanzen so lange, dass sie die letzten Gäste auf der Tanzfläche sind. Dann erscheint Pablo und lädt Harry, den er mit »Bruder« anredet, zu einer »kleinen Unterhaltung« ein (S. 161), die nur Verrückten zugänglich sei und ihm den Verstand kosten werde. Haller sagt zu.
Pablo führt Hermine und ihn auf ein leeres Zimmer, wo sie sich in drei Sesseln niederlassen. Er beginnt zu sprechen: Haller habe sich oft nach einer anderen Welt gesehnt, einer Welt ohne Zeit. Diese andere Welt aber befinde sich nur in seinem Innern, in Hallers eigener Seele. Diesen Bildersaal seiner Seele wolle er ihm nun öffnen. Er hält Haller einen Taschenspiegel hin, der ihm zeigen soll, wie er sich bisher wahrgenommen hat. Darin erblickt Haller einen herumirrenden und verängstigten Steppenwolf.

Dann betreten sie Pablos Theater, es ist das Magische Theater. Es hat so viele Logentüren, erklärt Pablo, wie man wolle, und hinter jeder Tür werde man das finden, was man gerade suche. Vor dem Eintritt aber fordert Pablo Haller auf, sich seiner bisherigen Persönlichkeit des Steppenwolfs zu entledigen. Sie sei ein Gefängnis, in dem Haller sitze. Und sollte er mit dieser Persönlichkeit das Theater betreten, würde er nur geblendet und das hübsche Bilderkabinett, das ihn erwarte, würde ihm nichts nützen. Denn dann sehe er alles durch die Brille des Steppenwolfs. Und diese solle er deshalb bitte vorher an der Garderobe abgeben. Das Theater sei eine Schule des Humors, erklärt Pablo, und das Ziel sei es, dass Haller lachen lerne. Der erste Schritt dazu sei es, die eigene Person nicht mehr zu ernst zu nehmen.

In einem Wandspiegel erblickt Haller ganz viele Versionen seiner selbst, die alle unterschiedlich aussehen. Plötzlich verschwinden Pablo und mit ihm auch alle Versionen Hallers. Er ist nun komplett sich selbst überlassen und kann wählen, durch welche Türen des Theaters er gehen will. Und das tut er auch: Hinter einer Tür findet er eine Welt vor, in der Menschen und Maschinen gegeneinander kämpfen. Technischer Fortschritt und Kultur stehen einander als Feinde gegenüber und bekämpfen sich gegenseitig, sodass Haller bald nicht mehr weiß, auf welcher Seite er steht.

Er stürzt sich in diese Welt vor ihm, in Kämpfe und Verfolgungsjagden. Er trifft auf Personen aus seiner Vergangenheit, macht neue Bekanntschaften und hört ihnen zu, wie sie auf verwirrende Weise über Begriffe wie Pflicht und Schuld sprechen. Die Welt, die Haller betreten hat, ist chaotisch und verändert sich rapide. Auch er verhält sich anders. Als er sich mit seinem früheren Schulkamerad Gustav auf einer wilden Jagd durch Wälder und Gebirge befindet, lässt er seinen Pazifismus hinter sich und beginnt mit einem Gewehr zu schießen. Er und Gustav befinden sich im Kampf: dagegen, dass die Menschheit ihren Verstand zu sehr gebraucht.

Analyse

Zu Anfang fällt es Haller schwer, sich auf den Maskenball einzulassen. Er empfindet das Vergnügen als »dumm und erzwungen« (S. 152). Um ebenfalls Freude daran zu empfinden, müsste er aufhören, an seiner Selbstwahrnehmung als Steppenwolf festzuhalten, der ein Außenseiter ist und nirgendwo hineinpasst. Aber genau das vermag er zunächst nicht: »Es war eine Niederlage, ein Rückfall in den Steppenwolf, und Hermine würde es mir kaum verzeihen. Aber ich konnte nicht anders.« (S. 152) Erst als er erfährt, dass auch Hermine zugegen ist, taut Haller schlagartig auf. Die Anwesenheit derjenigen, die ihm geraten hat, er müsse aufhören, sich als Steppenwolf zu sehen, hilft ihm dabei, genau diesem Drang zu widerstehen.

Hermine erscheint ihm an diesem Abend als eine Mischung aus Mann und Frau. Als er sie erspäht, denkt Haller für einen kurzen Augenblick, sie sei sein Jugendfreund Hermann. Auch den restlichen Abend über bleibt Hermine weiterhin diese Mischung aus Männlichem und Weiblichem:

    (…) und während sie fern und neutral erschien in ihrer Männermaske, umgab sie mich in Blicken, in Worten, in Gebärden mit allen Reizen ihrer Weiblichkeit. Ohne sie nur berührt zu haben, unterlag ich ihrem Zauber, und dieser Zauber selbst blieb in ihrer Rolle, war ein hermaphroditischer. (S. 155)

Der Begriff »hermaphroditisch« stammt aus der Mythologie. Der lateinische Dichter Ovid schreibt in seinen »Metamorphosen« von einem Jüngling namens Hermaphroditus, der mit der Nymphe Salamacis verschmilzt. Das daraus entstandene Mischwesen ist halb Mann, halb Frau. Das Wort »hermaphroditisch« bezeichnet in diesem Kontext also jemanden, der sowohl männliche als auch weibliche Erscheinungsmerkmale besitzt.

Hermine ist demnach eine Fusion aus verschiedenen Personen. Sie ist halb männlich, halb weiblich, halb Hermann, halb Hermine. Auch der restliche Ballsaal verschmilzt zu einer Einheit. Haller schreibt:

Ein Erlebnis, das mir in fünfzig Jahren unbekannt geblieben war, obwohl jeder Backfisch und Student es kennt, wurde mir in dieser Ballnacht zuteil: das Erlebnis des Festes, der Rausch der Festgemeinschaft das Geheimnis vom Untergang der Person in der Menge, von der Unio mystica der Freude. (S. 156)

Er erlebt, wie sein Selbst in der Menge aufgeht, und von da an ist er nicht mehr der Steppenwolf, der er immer zu sein geglaubt hat: »Ich war nicht mehr ich, meine Persönlichkeit war aufgelöst im Festrausch wie Salz im Wasser.« (S. 157)

Damit ist er nun vollständig auf das Magische Theater vorbereitet, in das ihn Pablo entführt. Dieses Theater soll ihm seine Seele zeigen, und zwar in all ihren Facetten. Dafür muss er selbstverständlich zuerst seine vorherige rigide Selbstwahrnehmung als Steppenwolf vergessen. Andernfalls wird er nicht in der Lage sein, die anderen Facetten seines Selbst wahrzunehmen. Er begeht einen metaphorischen Selbstmord.
Das weiß auch Pablo, der beruhigend auf ihn einredet:

    Denn natürlich ist dein Selbstmord kein endgültiger; wir sind hier in einem magischen Theater, es gibt hier nur Bilder, keine Wirklichkeit. Suche dir schöne und heitere Bilder aus und zeige, daß du wirklich nicht mehr in deine fragwürdige Persönlichkeit verliebt bist! (S. 165)

Das Theater soll Haller lediglich dazu verhelfen, sich selbst weniger ernst zu nehmen, als er es bisher getan hat. Es soll ihn Lachen lehren. Damit knüpft es nahtlos an die Lehren des Traktats an. Auch jenes hatte ihm erklärt, dass er nicht nur aus zwei Ichs, sondern aus ganz vielen bestehe, und dass er lernen müsse, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Wenn das Traktat die theoretische Lerneinheit für Haller war, ist das Theater nun die praktische.

Hinter den Türen des Theaters soll Hallers Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen werden. Diese war von Anfang an das wichtigste Ziel der Handlung, und damit stellt der Eintritt ins Theater in gewisser Weise den Höhepunkt der Handlung dar. Hier lösen sich die Haupthandlungsstränge des Romans auf: Hallers sich allmählich verstärkende Zuneigung zu Hermine, mit der er das Theater gemeinsam betritt, und der er dort begegnen wird (siehe den folgenden Abschnitt), und die bereits genannte Persönlichkeitsbildung Hallers. Dass sich der Höhepunkt des Romans jenseits der Grenzen der Wirklichkeit, in einem rein fiktionalen Territorium abspielt, ist bezeichnend: Nichts von dem, was im Magischen Theater geschieht, hat letztendlich einen bleibenden Effekt auf das reale Leben. Auf diese Weise nimmt das Ende des »Steppenwolfs« eindeutig surrealistische Züge an. Diese waren bereits von Anfang an präsent und finden nun in der Fiktionalität des Magischen Theaters ihren Höhepunkt.

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.