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Der Steppenwolf

S. 41-64 (Traktat vom Steppenwolf)

Zusammenfassung

Haller liest nun in seinem Zimmer das »Traktat vom Steppenwolf«, das, genau wie seine eigenen Aufzeichnungen, mit dem Zusatz »Nur für Verrückte« versehen ist. Schon mit dem ersten Satz wird klar, dass es im Traktat um ihn selbst geht. Die im Traktat vorkommende Figur trägt den Namen Harry Haller und hat unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Harry Haller, der gerade in seinem Zimmer das Traktat liest.

Der Harry Haller des Traktats sieht sich nicht in erster Linie als Mensch, sondern als Wolf aus der Steppe. In ihm leben daher zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische. Diese beiden Naturen leben nicht in Frieden miteinander, sondern bekämpfen sich gegenseitig. Entscheidet sich Haller, für einige Zeit auf die menschliche Natur in sich zu hören, wird die wölfische ihn daran hindern, indem sie Handlungen, welche die menschliche Natur für gut befindet, als lächerlich darstellt. Umgekehrt lässt auch die menschliche Natur in Haller nicht zu, dass er sich komplett für die wölfische entscheidet.

Hallers menschliche Natur macht aus ihm ein kluges und gebildetes Wesen, die wölfische Natur hingegen ein freies und ungezähmtes. So lebt Haller stets in Zerrissenheit. Nur ganz selten können sich seine zwei Naturen versöhnen und sogar gegenseitig stärken. Harry Haller ist nicht der einzige Mensch dieser Art. Auch andere tragen zwei solche Seelen in sich. In den meisten Fällen sind das Künstler, die zwar den größten Teil ihres Lebens leiden, aber in seltenen Momenten überwältigende Glücksgefühle erleben. Sowohl ihr Leid als auch ihr Glück erleben sie deutlich intensiver als gewöhnliche Menschen.

Dem Steppenwolf ist das Leben des Bürgertums verhasst. Er will eine normale, an gesellschaftliche Konventionen angepasste Existenz um jeden Preis vermeiden und unabhängig von all solchen Erwartungen bleiben. An diesem Verlangen nach Unabhängigkeit aber wird er zugrunde gehen. Der Steppenwolf vereinsamt, denn er kann keine tiefen Bindungen zu seinen Mitmenschen aufbauen.

Außerdem gehört der Steppenwolf zu den »Selbstmördern«. Zu jenen zählen laut Traktat all diejenigen, die ihr eigenes Ich als Bedrohung empfinden und für die der Selbstmord daher die wahrscheinlichste Todesform ist. Für den Steppenwolf stellt der Gedanke an den Tod einen Trost und eine Stütze dar. Sie spornt ihn an, noch mehr Schmerzen und Leid zu ertragen, nur um letztendlich zu sehen, wie große Mengen davon er aushalten kann.
Der Steppenwolf verachtet das Bürgertum und ist stolz darauf, selbst kein Bourgeois zu sein. Er sieht sich als Außenseiter und künstlerisches, geniales Individuum. Dennoch kann er sich dem Milieu der Bourgeoisie nicht ganz entziehen und übernimmt einige Elemente ihres Lebensstils. So hat er sich zwar eigentlich lange schon von bürgerlichen Idealen verabschiedet, bleibt aber noch immer ein wenig an ihnen hängen.

Die Ideale des Bürgertums sind Mäßigkeit, Normalität und Durchschnittlichkeit. Diese hat es sich zur Selbsterhaltung angeeignet. Gleichzeitig hängt aber das Überleben des Bürgertums von den Steppenwölfen ab. Es lebt im Bürgertum stets eine große Menge starker und wilder Naturen wie Haller, die sich zwar von ihrer Umgebung losreißen wollen, es aber zumeist nicht schaffen. Solche Steppenwölfe, die ihr Leben lang in der bürgerlichen Sphäre verweilen müssen, haben sich eine Strategie zurechtgelegt, mit ihrem Schicksal umzugehen: Humor.

Der Humor stellt für alle die Steppenwölfe, die es nicht geschafft haben, sich von der Bourgeoisie loszureißen und in die Genialität des Künstlertums zu entfliehen, eine Art »versöhnlichen Ausweg« dar. Das Traktat merkt an, dass Haller diese Fähigkeit zwar noch nicht erlernt hat, es aber sehr wohl noch könnte. Humor wäre seine Rettung: Auf diese Weise ließen sich die wölfische und menschliche Natur miteinander vereinbaren. Das Traktat deutet nun an, dass der Steppenwolf Harry Haller im Magischen Theater genau diese Fähigkeit erlernen könnte. Aber dazu müsste Haller erst einmal bereit sein, sich selbst besser kennenzulernen, und das ist genau, was er fürchtet.

Abschließend fügt das Traktat hinzu, dass die Einteilung des Steppenwolfs in zwei Wesen oder Seelen selbstverständlich eine Vereinfachung ist. Ein Individuum besteht aus mehr als nur zwei oder drei Teilen. Jeder Mensch, auch Haller, ist ein komplexes Wesen, das aus unzählbar vielen Gegensätzen besteht. Er ist ein »Bündel aus vielen Ichs« (S. 58), die Idee vom einen Ich ist reine Illusion. Auch Haller, der sich selbst in zwei Teile bzw. Seelen geteilt glaubt, erliegt dieser Illusion. Das, was das Bürgertum »Mensch« nennt, ist nur ein Konstrukt. Der »wahre Mensch« ist ein »Unsterblicher«, ein »Genie« (S. 64). Haller hätte die Möglichkeit, ein solches Genie zu werden; er müsste nur aufhören, sich als zweigeteilten Steppenwolf zu sehen, und beginnen, sich als komplexes, aus vielen Gegensätzen bestehendes Ich zu sehen.

Analyse

In Form des Traktats wird nicht nur dem Leser, sondern auch Haller selbst eine komplette Analyse seiner eigenen Persönlichkeit vorgelegt. Zu einem gewissen Grad wird im Traktat das bestätigt, was der Herausgeber in seinem Vorwort bereits angedeutet und was Haller am Beginn seiner Aufzeichnungen über sich selbst gesagt hatte. Haller ist ein in Zerrissenheit lebendes Wesen, das zwischen zwei Polen schwankt, zwischen Künstlertum und Bürgertum, Wolf und Mensch. Er ist ein Steppenwolf. Das Traktat allerdings geht in seiner Analyse Hallers noch ein wenig tiefer: Es nennt den wahren Grund für Hallers Leid, den Haller selbst nicht erkennen kann.

Zunächst beginnt auch das Traktat damit, zu sagen, dass Haller sich als eine Mischung aus Mensch und Wolf sieht, ein Wesen mit zwei Seelen: »Harry findet in sich einen ›Menschen‹, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen ›Wolf‹, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur.« (S. 57) Hallers menschliche Seele steht demnach für Vernunft und die Zugehörigkeit zum Bürgertum, seine wölfische Seele für Triebhaftigkeit und die Zugehörigkeit zum Künstlertum.

Bis hierhin bestätigt das Traktat alles, was der Herausgeber und Haller soweit berichtet haben: Haller will eigentlich das Dasein eines Künstlers führen, kann sich aber nicht ganz vom Milieu der Bourgeoisie losreißen. Er will zurückgezogen leben und sich voll und ganz der Kunst widmen, kommt aber gleichzeitig in durch und durch bürgerlichen Häusern zur Untermiete unter. Er fühlt sich zerrissen.

Anders als Haller und der fiktive Herausgeber sieht das Traktat jedoch einen Ausweg aus Hallers Situation. Es schlägt vor, dass Haller mithilfe von Humor die bürgerliche und künstlerische, die menschliche und die wölfische Seite von sich vereinen und einen Kompromiss zwischen diesen Seiten finden könnte. Humor bedeutet somit Hoffnung für Haller, und das Magische Theater könnte ihm dazu verhelfen.

Besonders wichtig für diese Perspektive ist, dass Haller außerdem einer Fehlannahme unterliegt. Er besteht nicht, wie er glaubt, aus nur zwei Hälften, sondern aus unendlich vielen Paaren von Gegensätzen: »Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.« (S. 57)

Diese Aussage gilt für jedes Wesen, Tiere sowie Menschen. In keinem Wesen gibt es nur ein Ich, sie alle sind Knäuel aus ganz vielen Ichs. Haller aber redet sich ein, er bestehe nur aus Mensch und Wolf. Alle Teile seiner Persönlichkeit, die nicht in diese Dichotomie fallen, kann und will er nicht sehen. Denn er fürchtet sich, die ganze Komplexität seines Ichs zu begreifen.

An dieser Stelle wird eine interessante literarische Referenz gemacht: Das Traktat zitiert Goethes »Faust« und dessen berühmten Ausruf, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen. Faust sei also dem gleichen Irrtum unterlegen wie Haller. Diese Parallele setzt sich im weiteren Verlauf des Romans fort, und wird insbesondere durch die gelegentlichen Begegnungen Hallers mit Fausts Schöpfer, Goethe, (als Portrait und im Traum) unterstützt.

Weil Haller die Konfrontation mit der Komplexität seines Ichs fürchtet, könnte der Humor für ihn einen Ausweg aus seiner Situation darstellen. Denn allein der Humor »(…) überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen.« (S. 55) Humor wäre ein Mittel, mit dem Haller alle seine verschiedenen Ichs vereinen, und harmonisch leben könnte.

Mit dem Traktat beendet Hesse gewissermaßen den Vorspann des Romans, und leitet den längeren Hauptteil ein. Dieser Aufbau ist deshalb bemerkenswert, weil Hesse selbst über seinen Roman anmerkte, dass seine Struktur dem einer Sonate oder Fuge ähnele (Stelzig, 1988). Als er sich (nicht zum ersten Mal) gegen die Formlosigkeit seines Romans verteidigen musste, sagte er: »Rein künstlerisch ist der ›Steppenwolf‹ mindestens so gut wie ›Goldmund‹, er ist um das Intermezzo des Traktats herum so streng und straff gebaut wie eine Sonate und greift sein Thema reinlich an.« (Ziolkowski, 1958)

Der Literaturwissenschaftler Theodore Ziolkowski bezeichnete Hesses Roman als eine »Sonate in Prosa« (»A Sonata in Prose«) und merkte an, dass der Roman zwar auf den ersten Blick formlos erscheinen mag, da er keine Kapitel oder andere Unterabschnitte besitzt, aber Hesses Verständnis der Sonate entspreche (Ziolkowski, 1958). So ähnelt der Vorspann aus Vorwort, dem ersten Abschnitt von Hallers Aufzeichnungen und Traktat dem ersten Satz einer Sonate, der darauffolgende Teil dem zweiten und das Finale im Magischen Theater dem dritten (ebd.). Bemerkenswert ist außerdem, dass in einer Sonate im dritten Satz Themen und Motive aus dem ersten wiederaufgenommen werden – genau das geschieht in Hesses Roman nun mit den Lehren des Traktats, die im Magischen Theater wiederholt und variiert werden (ebd.).

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.