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Der Steppenwolf

S. 22-40 (Harry Hallers Aufzeichnungen)

Zusammenfassung

Nun beginnt Harry Hallers eigenes Manuskript, das er dem anonymen Herausgebers hinterlassen hat. Seine Aufzeichnungen tragen die Überschrift »Nur für Verrückte.« Die Einträge sind nicht datiert und die Ausführlichkeit des Erzählten variiert. Manchmal werden kurze Zeiträume sehr detailliert beschrieben, manchmal wiederum werden längere Zeitabschnitte nur grob skizziert.

Haller beschreibt zunächst seinen heutigen Tag, den er sehr ruhig verbracht hat: Er hat gelesen, ist spazieren gegangen, hat sich ein wenig über Schmerzen beklagt. So, meint er, sollten bereits seit langer Zeit alle seine Tage ablaufen. Haller ist froh, dass er die Tage der anderen Art nun nicht mehr ertragen muss, die Tage der »inneren Leere und Verzweiflung« (S. 24), in denen er die Verlogenheit der Menschenwelt nicht mehr erträgt und höllische Qualen leidet. Denn seit er jene anderen Tage kennengelernt hat, kann er sich über Tage wie den heutigen umso mehr freuen. Er weiß nun ereignislose Zeiten zu schätzen, in denen in seinem Leben und auch in der Welt nichts Schlimmes vorfällt: kein neuer Krieg, keine neue Diktatur.

Haller sieht zweifellos die Vorteile eines in Schmerzlosigkeit und Zufriedenheit verbrachten Lebens. Das Einzige, was ihn daran hindert, ist sein eigenes Temperament. Nach einigen Tagen eines solchen Lebens zieht es ihn regelrecht in eine Welt der Lust und der Schmerzen. In ihm brennt dann eine »wilde Begierde« (S. 25) nach starken Gefühlen und eine Wut auf das konventionelle, bürgerliche Leben, das er führt. Denn er verabscheut das Bürgertum, das so großen Wert auf Normalität, Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit legt.
An dem Tag, an dem das Manuskript beginnt, beschließt Haller, einen Abstecher in ein Gasthaus zu machen, um dort sein Leid zu ertragen. Er selbst, der sich selbst als »heimatlosen Steppenwolf« (S. 26) bezeichnet, lebt in einem durch und durch bürgerlichen Haus. Das ist eine alte sentimentale Angewohnheit von ihm, da ihn diese hochlangweiligen, gewöhnlichen Häuser, in denen sich nichts ereignet, an seine Kindheit erinnern. Außerdem sieht er gern den Kontrast zwischen seinem eigenen unordentlichen Leben und dem des Familien- und Bürgermilieu.

Er verlässt sein Zimmer und läuft durch die Stadt. Währenddessen erinnert sich Haller an seine weit zurückliegenden Jugendjahre, in denen er ebenfalls halbe Nächte durch die Stadt gelaufen, deren Einsamkeit und Melancholie genossen und dann später in seinem Zimmer Gedichte darüber geschrieben hat. Nun lebt er eintönig und ohne große Empfindungen. Das letzte Mal, dass er sich lebendig und mit der Welt verbunden fühlte, war bei einem Konzert, wo alte Musik gespielt wurde.

Haller teilt keines der Ziele, die Bürger der modernen Welt anstreben, und er kann sich auch nicht an den gleichen Dingen erfreuen wie andere Menschen seiner Zeit. Moderne Kinos und Theater, Eisenbahnen und überfüllte Cafés sind ihm gleichgültig. Die Dinge wiederum, die ihm selbst Freude bereiten, wollen moderne Bürger nur in Dichtung und Fiktion akzeptieren, nicht im realen Leben.

Auf seinem Spaziergang durch die Stadt kommt Haller an einem Tor vorbei, das ihm zuvor noch nie aufgefallen ist. Darüber steht geschrieben:

    Magisches Theater

        Eintritt nicht für jedermann

            - nicht für jedermann

Nachdem er vergeblich versucht hat, die Tür zu öffnen, erscheint Haller in einer Pfütze eine Ergänzung des Schriftzugs über der Tür: Nur für Verrückte. Da er jedoch noch immer keinen Weg findet, durch den Eingang zu kommen, setzt Haller seinen Weg zum Gasthaus fort, wo er ein Glas Wein und ein Brot zu sich nimmt. Währenddessen versucht er die »goldene göttliche Spur« (S. 28) wiederzufinden, die für ihn eine Verbindung zu der Welt des Unsinnigen und Verrückten darstellt, des Dichterischen, welche die bürgerliche Welt um ihn herum verloren hat.

Auf seinen Irrwegen durch die Stadt passiert Haller noch einmal das Magische Theater. Diesmal steht ein Mensch mit einem Plakat davor, das »Anarchistische Abendunterhaltung« (S. 37) ankündigt. Als Haller ihn darauf anspricht, händigt er ihm ein kleines Büchlein mit dem Titel »Traktat vom Steppenwolf. Nicht für jedermann« (S. 38) aus, das Haller mit nach Hause nimmt. Er beginnt zu lesen.

Analyse

Haller weiß, dass er ein ereignisloses, schmerz- und lustfreies Leben anstreben sollte. Er sollte die gemäßigten Tage eines älteren Herren leben, »ohne besondere Schmerzen, ohne besondere Sorgen, ohne eigentlichen Kummer, ohne Verzweiflung.« (S. 24) Tage, wie das moderne Bürgertum sie schätzt und lebt. Haller aber ist nicht für ein solches Leben gemacht. Er passt nicht in seine Zeit und kann sich nicht an das Leben jenes modernen Bürgertums gewöhnen.

Wenn er trotzdem versucht, sich an ein solches Leben anzupassen, kommt ihm nach kurzer Zeit seine eigene »kindische« Seele (S. 25) und eine »wilde Begierde nach starken Gefühlen, nach Sensationen« in den Weg. Er empfindet dann »eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben und eine rasende Lust, irgend etwas kaputtzuschlagen.« (S. 25) Denn Haller verabscheut die Ordnung und Gepflegtheit, die Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit des Bürgertums.

Er ist ein Außenseiter, ein »heimatloser Steppenwolf« (S. 26). Und trotzdem kann er sich nicht ganz von der bürgerlichen Sphäre losreißen. Haller bleibt seiner langjährigen Angewohnheit treu, stets in vollkommen bürgerlichen Häusern zu leben. Er bezeichnet das als eine »alte Sentimentalität« (S. 26), weil sie ihn an seine Kindheit erinnern. Aus dieser Bemerkung lässt sich schließen, dass Haller in einem sehr bürgerlichen Haushalt aufgewachsen sein muss.

Diese Beobachtung deckt sich mit einer Anmerkung des Herausgebers im Vorwort. Dort hatte er erwähnt, dass Hallers Eltern seine freigeistige Persönlichkeit und seinen Willen hatten brechen wollen, es ihnen aber nicht komplett gelungen war. Folglich muss Haller bereits als Kind ein sehr zwiespältiges Leben haben.

Er beschreibt den Kontrast, der zwischen seinem Leben und dem derjenigen herrscht, bei denen er wohnt. Zur Veranschaulichung nutzt Haller sein Zimmer und das Haus seiner Vermieter. Im großen bürgerlichen Haus herrscht Ordnung, in seinem Zimmer hingegen Chaos. Es ist durchtränkt »von der Not der Einsamen, von der Problematik des Menschseins, von der Sehnsucht nach einer neuen Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben.« (S. 27)

Bei seinem Spaziergang sinniert Haller über seine Zeitgenossen. Er fühlt sich als Außenseiter, als »ruppiger Eremit« (S. 28), der keine der Freuden der modernen Welt teilen kann. Er versucht es zwar, indem er Gasthäuser besucht oder zu Konzerten geht, aber es will ihm nicht recht gelingen. Im Umkehrschluss können die modernen Bürger wiederum kein Verständnis für Haller aufbringen. Die Dinge, die ihm wichtig sind, halten sie für verrückt und unsinnig.

Haller vermisst die alten Zeiten, denen er sich zugehörig fühlt. Er vermisst die »echte Musik« und die »echte Dichtung« des früheren Europas (S. 23) und das, was man einst Kultur, Geist oder Seele nannte. Er ist ein Romantiker, der sich nach Zeiten sehnt, die lange vorbei sind und nicht zurückkehren werden. Im Nachhinein fragt er sich, ob eine solche Welt, wie die, nach der er sich sehnt, jemals existiert hat: »War das, worum wir Narren uns mühten, schon immer vielleicht nur ein Phantom gewesen?« (S. 36).

Die Vergnügungen und die Kunst der Moderne bedeuten Haller nichts. Folglich ist ihm auch das Wirtshaus, in dem er zu Beginn seiner Aufzeichnungen den Abend verbringt, gleichgültig, ebenso die lange Weinkarte und das Essen. Das Einzige, was seine Aufmerksamkeit erregt, ist das Magische Theater, da es nur Verrückten Zugang gewährt. Für ihn, dessen nostalgisches, romantisches Künstlertum von seinen Zeitgenossen für verrückt befunden wird, dürfte es keinen interessanteren Ort geben.

Haller beginnt auf diese Weise mehr und mehr dem Verfasser Hermann Hesse selbst zu ähneln. Hesses Roman weisen häufig biographische Elemente auf, und dieser ist keine Ausnahme. Hesse zur Zeit der Niederschrift des Romans und Haller sind ungefähr gleich alt. Beide sind intellektuell und künstlerisch veranlagt, beide haben schwere persönliche Rückschläge erlitten (siehe auch: Historischer Hintergrund und Epoche) und befinden sich in einem Zwiespalt zwischen Bürgertum und Künstlertum. Sie leiden beide an der Neurose, die der Erzähler zuvor beschrieben hat. Es sollte jedoch stets beachtet werden, dass Haller keineswegs einfach eine autobiographische Gestalt ist; trotz seiner Ähnlichkeiten zu Hesse selbst bleibt er ein fiktionaler Charakter.

Veröffentlicht am 26. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2023.