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Das Haus in der Dorotheenstraße

Interpretation

Der intertextuelle Ansatz

Unter Intertextualität ist das Verhältnis von zwei oder mehreren Medien zu verstehen (S. 277f., Blühdorn). Das bedeutet beispielsweise, dass innerhalb eines Textes ein Verweis auf einen anderen Text gemacht wird. In Hartmut Langes »Das Haus in der Dorotheenstraße« gibt es einen solchen Verweis. So besucht Gottfried Klausen zweifach eine Aufführung der »Tragedy of Othello, the Moor of Venice« (kurz: »Othello«) von William Shakespeare in London. Shakespeares Werk behandelt die tragische Geschichte eines Feldherrn namens Othello, dessen Fähnrich Jago an ihm Rache üben will. Durch eine Intrige Jagos wird Othello schließlich, von Eifersucht motiviert, zum Mord an seiner Frau Desdemona getrieben. (S. 30, Gebauer) 

Die Eifersucht Gottfrieds wird nicht durch eine Intrige befördert, sondern erst ausgelöst, als er das Theaterstück besucht und Xenia dann am selben Abend nicht erreichbar ist. In der Nacht wacht er auf, wirkt desorientiert und fragt sich, warum Xenia nicht erreichbar ist. Über die Handlung hinweg intensiviert sich Gottfrieds Verdacht von der Untreue seiner Frau. Die fremde Männerstimme dient hier als Katalysator. Er schaut sich das Othello-Stück nochmals an und befürchtet, davon beeinflusst zu werden. Der Ausruf »Put out the light« hinterlässt eine Wirkung. Letztlich beendet der Erzähler die Novelle mit einem möglichen Zukunftsausblick. In diesem Ausblick handelt Gottfried ähnlich wie Othello, die Lichter erlöschen und es kann der Mord an Xenia suggeriert werden, obwohl Gottfried keine Beweise für Xenias Untreue vorliegen.

Der soziologische Ansatz

Bereits im ersten Kapitel von »Das Haus in der Dorotheenstraße« wird die Figur Gottfried Klausen charakterisiert. Er wird vor allem durch seine Arbeit als Wirtschaftsjournalist und seine Arbeitsmoral beschrieben. Er recherchiert präzise und nimmt die Arbeit ernst. Parallel werden andere Informationen zur Figur Gottfrieds verschwiegen, wie etwa sein Aussehen oder sein Alter. Auch über die Handlung hinweg erscheint die Arbeit als ein Strukturelement. Gottfried entscheidet sich für eine ihm angebotene Versetzung nach London und dafür, seine Frau Xenia in Berlin zurückzulassen. Sein Leben zeigt neben der Arbeit keine Abwechslung, denn neben seinen Spaziergängen auf der Brücke oder kurzen Besuchen im Restaurant widmet er sich seinem Rechner.  

Die Novelle zeigt ein Beispiel der komplexen Bedingungen innerhalb der modernen und globalen Arbeitswelt sowie ihre Konsequenzen für die Institution der Ehe (S. 80, Gebauer). Gottfried leidet unter seiner Entscheidung. Sein Zuhause in Berlin, die Nathanbrücke und Xenia gaben ihm Halt. Die Ehe von Xenia und Gottfried wird brüchig. Ob Xenia untreu gewesen ist, kann spekuliert werden. Allerdings ist deutlich, dass der Kontakt zwischen den beiden weniger wird und schließlich aufhört. Xenia kommt nicht nach London und meldet sich nicht mehr, sodass anzunehmen ist, dass ihre Ehe für sie nicht mehr von großer Wichtigkeit ist. Gottfried verdrängt die Situation schließlich lieber, als Kontakt zu seiner Frau aufzunehmen. Zuletzt wird ein möglicher Gewaltakt angedeutet.

Der psychologische Ansatz

Die Novelle von Hartmut Lange behandelt drei Bereiche, die den psychischen Zustand Gottfrieds Klausen beeinflussen: Eifersucht, Einsamkeit und Überlastung (Burnout). Als Gottfried sich entscheidet, nach London zu ziehen, hinterlässt er sein vertrautes Zuhause und seine Frau Xenia. Er zieht in eine fremde Stadt, in der er niemanden kennt. Die einzige Form von Vertrautheit verspürt er über das Telefonat mit seiner Frau, aber dies reicht ihm nicht. Er fühlt sich allein und möchte Xenia zu sich holen. Diese Situation beeinflusst seine Work-Life-Balance. In Berlin war Gottfried ebenso gründlich und präzise, was seine Arbeit als Journalist anging, doch nach der Arbeit konnte er in sein vertrautes Heim in der Dorotheenstraße zurückkehren und auf der Nathanbrücke spazieren.

Diese zwei Aspekte werden schließlich ergänzt durch Eifersucht. Gottfrieds mentaler Zustand wird immer instabiler. Seine Gedanken sind durcheinander und die Situation mit Xenia betäubt ihn. Das Othello-Theaterstück befördert sein Gedankenchaos. Die Lösung seines Problems ist entweder durch eine komplette Verdrängung und Distanzierung möglich, indem er nach Island versetzt wird. Die andere Option wäre, nach Berlin zu fliegen und Rache zu nehmen an Xenia. Beide Optionen zeigen demzufolge das Unheimliche der Figur Gottfrieds, das als Resultat seiner Selbstentfremdung zum Vorschein kommt (S. 83, Gebauer). 

Veröffentlicht am 13. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2023.