Skip to main content

Das Haus in der Dorotheenstraße

Zitate und Textstellen

  • »Die beiden kannten sich aus der gemeinsamen Schulzeit, waren also, was ihre Eigenarten und Interessen betraf, über Jahre miteinander vertraut, und sie hatten mit dem Haus in der Dorotheenstraße etwas gefunden, das ihnen das Gefühl von Geborgenheit gab, [...].«
    – S. 73

    Zu Beginn der Novelle führt der Erzähler den Leser in die Welt Gottfried Klausens. Dabei zeichnet er ein stereotypisches Bild von einem glücklichen Ehepaar, das sich seit vielen Jahren kennt und miteinander vertraut ist. Auch teilen sie ein gemeinsames Heim, in dem sie sich geborgen fühlen. Folglich erscheint Gottfried als ein zufriedener Ehemann. Vor diesem Hintergrund ist der plötzliche Zerfall der Ehe, die mögliche Untreue Xenias sowie Gottfrieds Einsamkeit eine drastische Wendung. Die Vertrautheit und Geborgenheit, die zu Beginn dem Leser vorgestellt werden, entpuppen sich als Schein.

  • »›Vielleicht hätte ich doch nicht hierherkommen sollen‹, dachte er, als er auf einer Brücke stand und bemerkte, wie kalt ihm der Wind ins Gesicht blies [...].«
    – S. 76

    Gottfried ist zu diesem Zeitpunkt bereits nach London gezogen. Die ersten Wochen sind vergangen. Mit seiner Frau hält er über das Telefon Kontakt, doch wegen der größeren Wohnung, in die sie mit ihm ziehen könnte, muss er sie stets vertrösten. Dieser neue Lebensabschnitt setzt Gottfried zu. Als er dann auf der Brücke bei der Themse steht, versucht er, ein Stück von Heimat und Geborgenheit zu verspüren, wie in Berlin auf der Nathanbrücke. Doch stattdessen hinterfragt Gottfried seine Entscheidung, nach London zu ziehen. Das schlechte Wetter belastet ihn zusätzlich.

  • »[...] er staunte, dass ihm dort in bunten Kostümen und mit wilden, eindringlichen Gebärden ein Mann vorgeführt wurde, der vorgab, seine Frau bedingungslos zu lieben und der sich trotzdem weigerte, die Untreue, die man ihr angedichtet hatte, auf vernünftige Weise zu hinterfragen.«
    – S. 77-78

    Gottfried ist charakterlich als ein rationaler Mensch zu beschreiben. Auch beruflich recherchiert er gründlich und umgibt sich mit Fakten. Als er ins Theater geht, um etwas Abwechslung zu erfahren, taucht er in eine Welt der Illusion ein. Doch auch an dieser Stelle hinterfragt Gottfried, wie sonst auch, mit seiner Vernunft das Bühnengeschehen. Er sieht es als unglaubwürdig und irrational an, dass ein Mann vorgibt, seine Frau bedingungslos zu lieben, und ihr dennoch keinen Glauben schenkt. Diese Situation innerhalb der Handlung erscheint als Ironie. Es ist nämlich Gottfried selbst, der im Verlauf der Handlung seinen auf Vernunft gegründeten Bewertungsmaßstab verliert. Er verdächtigt seine Frau Xenia, untreu zu sein und ist nicht bereit, seinen Verdacht vernünftig zu überprüfen.

  • »›Wo bin ich‹, dachte Gottfried Klausen, und: ›Wie spät ist es‹, und: ›Warum ruft Xenia nicht an.‹«
    – S. 79

    Nachdem Gottfried aus dem Theater in seine Wohnung zurückkehrt, erreicht er Xenia nicht. Dies verwundert ihn zunächst nicht, obwohl die beiden verabredet waren. Dass das Theaterstück psychisch einen Einfluss auf ihn ausgeübt hat, wird sichtbar, als er mitten in der Nacht aufwacht. Er wirkt desorientiert und fragt sich, was mit Xenia sei. Eventuell habe er schlecht geträumt, wie der Erzähler vorher andeutete, sodass seine Zerstreutheit auch damit zu begründen wäre. Schließlich kann festgehalten werden, dass Gottfrieds Gedanken um seine Frau kreisen und dass er sich Sorgen macht.

  • »Da war jemand, der wissen wollte, wer er war, und als Klausen seinen Namen nannte und darauf bestand, mit seiner Frau zu sprechen, hörte er ein Flüstern, dann im Hintergrund ein unterdrücktes Lachen, und es war, daran bestand kein Zweifel, Xenia, die sich, worüber auch immer, zu amüsieren schien.«
    – S. 86

    Diese Situation bildet einen Höhepunkt in der Handlung. Es ist der Moment, in dem sich alles ändert für Gottfried und der Kontakt zwischen ihm und Xenia abbricht. Gottfried ruft Xenia an, als er wieder am Flughafen steht. Der Flughafen erscheint überdies als Ort, an dem Konflikte für die Beziehung Xenias und Gottfrieds aufkommen. Gottfried hört nun zum zweiten Mal die fremde Männerstimme und entscheidet sich diesmal, den Mann zu konfrontieren. Er zeigt sich entschlossen, mit seiner Frau sprechen zu wollen. Doch Gottfried hört ein Flüstern und ein Lachen. Das Lachen identifiziert er als das von seiner Frau. Über dieses Lachen grübelt Gottfried im weiteren Verlauf der Handlung.

    Auch der Erzähler greift am Ende der Novelle das Lachen auf: »Hin und wieder hörte man ein Frauenlachen, und wer da lachte, der sollte sich nicht allzu sicher fühlen.« (S. 93). Demzufolge wirkt dieses Lachen wie ein Katalysator für den Wahn Gottfrieds. Zudem überprüft Gottfried nicht, ob es tatsächlich das Lachen Xenias war. Seine Annahme reicht ihm.

  • »Er fühlte sich nach seiner Rückkehr vom Flughafen immer noch wie betäubt. Dabei wäre es naheliegend gewesen, sich, so oder so, Klarheit zu verschaffen. Aber er unterließ es, vielleicht, weil er fürchtete, der Vorgang könnte sich wiederholen.«
    – S. 87

    Die Geschehnisse setzen Gottfried zu. Seine Rationalität und Ruhe, welche er normalerweise an den Tag legt, helfen ihm diesmal nicht. Stattdessen verhält sich Gottfried irrational, denn er könnte Xenia anrufen oder nach Berlin fliegen, um Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Dass er sich dazu entscheidet, lieber Distanz zu suchen, deutet auf seine Verletztheit hin. Gottfried scheint Angst zu haben, mit der Realität konfrontiert zu werden. Es wäre nämlich im Bereich des Möglichen, dass seine Frau ihm fremdgegangen ist. Allerdings wirkt es, als würde Gottfried lieber den Schein wahren und als wäre die Situation nicht dramatisch.

  • »Und wer weiß, vielleicht waren die beiden, als Xenia über den Anruf ihres Mannes lachte, nicht etwa im Flur oder in der Küche, sondern im Schlafzimmer! Und war Klausens Ehe mit dieser Frau vielleicht schon seit Jahren derart verlogen, dass er ihre Untreue nicht bemerkt hatte?«
    – S. 88

    Gottfrieds Gedanken sind durcheinander. Er sucht Antworten für die vergangenen Vorkommnisse mit Xenia und dem fremden Mann am Telefon. So geschieht es zum ersten Mal, dass er seine Frau verdächtigt, ihm untreu gewesen zu sein. Es scheint, als würde sich Gottfried bildlich vorstellen, ein Mann wäre bei seiner Frau im Haus in der Dorotheenstraße. Er schlussfolgert, seine Frau könne bereits seit Jahren ihm etwas vorgemacht haben. Die Vertrautheit und Geborgenheit würden sich als eine Lüge erweisen. Somit hinterfragt Gottfried seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit.

  • »›Put out the light.‹ Diese Aufforderung ging Klausen nicht mehr aus dem Kopf.«
    – S. 90

    Nachdem Gottfried zum zweiten Mal das Theaterstück »The Tragedy of Othello, the Moor of Venice« besucht hat, sieht er sich mit zwanghaften Gedanken konfrontiert. Die Aussage »Put out the light« weist auf den Moment in dem Stück hin, in dem Othello seine Frau Desdemona ermordet, obwohl sie ihre Unschuld beteuert. Gottfried versteht dies als eine Aufforderung an ihn selbst. Somit sieht er sich in der Position Othellos und Xenia in der von Desdemona.

    Gottfried hat sich von seiner rationalen und ruhigen Art entfremdet. Er weiß sich aus seiner Dissonanz nicht mehr zu helfen, sodass sein mentaler Zustand instabil wird. Folglich drängt sich ihm der Gedanke auf, Rache an seiner Frau Xenia für ihre vermeintliche Untreue zu nehmen. Dass Gottfried, ähnlich wie Othello, nicht bereit ist, seine Vernunft walten zu lassen und an die Unschuld seiner Frau zu glauben, fällt ihm nicht auf.

  • »›Völlig gleichgültig‹ antwortete Klausen und schlug vor, erst einmal nach Island zu fahren, um dem Grimsvötn, der Heathrow lahmgelegt hatte, in Augenschein zu nehmen. ›Das muss ein Aschefeld sein, das alles unter sich begraben hat‹, sagte er und meinte, dass es sich lohnen würde, darüber eine Reportage zu schreiben.«
    – S. 92

    Als der Chefredakteur Gottfried fragt, wohin er versetzt werden möchte, gibt sich Gottfried gleichgültig. Seine Gleichgültigkeit kann interpretiert werden als ein Abschluss mit seinem alten Leben. Er ist bereit, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Doch dann schlägt er vor, nach Island zu gehen, um sich das Aschefeld anzuschauen. Der Vulkanausbruch Grimsvötn verkörpert nicht nur eine bloße Naturkatastrophe, sondern markiert den Zeitpunkt des Bruchs der Ehe der Klausens. Mit dem Ausbruch ging kausal einher, dass Gottfried nicht nach Berlin fliegen konnte und das zweite Mal mit dem unbekannten Mann am Telefon sprach. Demzufolge ist der Wunsch Gottfrieds, nach Island zu gehen, um sich das Aschefeld anzuschauen, aus einer emotionalen Absicht gefasst. Somit erreicht Gottfrieds Verdrängung einen Höhepunkt. Er will nicht nach Berlin zurück. Seine Ehe sieht er als gescheitert an.

  • »Das Haus lag in völliger Dunkelheit.«
    – S. 93

    Mit diesen Worten endet die Novelle. Der Erzähler schildert zuvor das Haus in der Dorotheenstraße, in dem die Lichter eingeschaltet sind und ein Lachen zu hören ist. Er entwirft eine Szenerie: So betritt Gottfried eines Nachts sein Haus und überrascht Xenia. Doch Gottfried erscheint nicht aus freudigen Beweggründen dort. Er ruft: »Put out the light« und gemäß dieser Aussage erlöschen die Lichter. Das Licht steht hier metaphorisch für Xenia. Wenn das Haus in völliger Dunkelheit erliegt, bedeutet es, Xenia wurde ermordet. Überdies heißt es, dass Gottfried seinem zwanghaften Wahn nachgegangen ist, den er zuvor versucht hat, zu unterdrücken. Er verkörpert folglich Othello.

Veröffentlicht am 13. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2023.