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Das Haus in der Dorotheenstraße

Kapitel 6

Zusammenfassung

Die Aufforderung »Put out the light« bleibt Gottfried auch die nächste Zeit im Kopf. Sein Gedankenchaos wirkt sich auch auf seine Arbeit aus. Die Qualität seiner Recherche ist unzureichend. Die sonst so wohl bedachte Themenwahl seiner Artikel gleicht nun eher der von Klatschkolumnen; er befasst sich mit privaten Affären von Politikern oder den Auswirkungen des Londoner Wetters auf die allgemeine Stimmung.

Diese Veränderungen bleiben in Berlin nicht unbemerkt. Der Chefredakteur stellt Gottfried am Telefon zur Rede. Gottfried bittet ihn entschlossen, versetzt zu werden. Er möchte nicht länger in London sein. Der Chefredakteur kann Gottfried trotz des langen Gesprächs und einiger Verbesserungsvorschläge nicht überreden, zu bleiben. Schließlich stimmt er Gottfrieds Versetzung zu. Auf die Frage, wohin er versetzt werden möchte, zeigt sich Gottfried gleichgültig. Er schlägt fürs Erste Island vor, um dort eine Reportage über den Vulkanausbruch zu schreiben.

Die Novelle endet mit Überlegungen des Erzählers. Er hinterfragt Gottfrieds Entscheidungen und Handlungen. So wäre es nachvollziehbar, anstelle nach Island, zuallererst nach Berlin zu fliegen. Doch könnte Gottfried – fragt der Erzähler – seine persönlichen Dinge abholen, so als wäre nichts geschehen?

Der Erzähler schließt mit einem Ausblick ab: Am Teltowkanal blüht es. Von der Nathanbrücke aus ist das Haus in der Dorotheenstraße schwer zu erkennen. In diesem Haus lacht Xenia. Doch sie soll sich nicht sicher fühlen, denn eines Nachts könnte Gottfried heimkehren. Er besitzt einen Schlüssel, mit dem er in sein Haus eintreten kann. Wenn er dann ruft: »Put out the light!«, erlöschen alle Lichter.

Analyse

Gottfried, der stets rational gepolt war und seine Arbeit ernst nahm, tritt im letzten Kapitel verwandelt auf. Er sieht sich mit zwanghaften Gedanken konfrontiert, denn »diese Aufforderung [»Put out the light«] ging Klausen nicht mehr aus dem Kopf« (S. 90). Noch immer scheint er den Gedanken, an Xenia Rache für ihre vermeintliche Untreue auszuüben, nicht überwunden zu haben. Er »stellte Fragen, die niemand beantworten konnte« (S. 90). Seine Arbeit verrichtet er schlampig, und bei der Themenwahl seiner Artikel wird seine geistige und emotionale Zerstreutheit auffällig. Er schreibt: »Es sei ein Gefühl, als hätten sich die Dinge bis zur Unkenntlichkeit entfernt« (S. 90). Offenbar fühlt er sich desorientiert. Er weiß nicht mehr, was er glauben soll oder wo die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion liegen.

Gottfried droht die ihm zu Beginn der Novelle zugeschriebenen Eigenschaften zu verlieren. Er findet nicht mehr selbständig rationale Antworten für seine Probleme. Seine Arbeit, die er sonst ernst nahm, erscheint ihm gleichgültig. Als sein Chefredakteur ihn schließlich fragt, was mit ihm los sei, antwortet Gottfried prompt mit: »Ich muss weg von hier« (S. 91.). Es erweckt den Eindruck, dass diese Frage für Gottfried wie ein Rettungsring kam. Gottfried entschließt sich nämlich in diesem Moment, London zu verlassen. Er war zuvor alleine mit seinen zwanghaften Gedanken und konnte sich keiner Person anvertrauen.

Eventuell befürchtet Gottfried, wenn er weiterhin in London bliebe, seinen zwanghaften Gedanken zu erliegen und zu einer Gewalttat gedrängt zu werden. Seinem Chef sagt er allgemein: »Man lernt sich kennen, und man erlebt, das kann ich dir versichern, manch unangenehme Überraschung« (S. 91). In seiner Zeit in London hat Gottfried anscheinend das Potential des Unheimlichen in sich selbst erkannt.

Neben der Entscheidung, London zu verlassen, hat Gottfried ebenso entschieden, nicht nach Berlin zurückzukehren. Auch hier kann zweierlei interpretiert werden. Einerseits kann er sich nicht selbst vertrauen, nach Berlin zu gehen, ohne seine Frau physisch unversehrt zu lassen. Andererseits könnte es sein, dass Gottfried lediglich nicht verletzt werden möchte und deshalb als eine Art Schutzmechanismus die gesamte Angelegenheit verdrängt. Dadurch scheint es, als wäre für Gottfried seine Ehe verloren. Dass seine Frau und er eine gemeinsame glückliche Zukunft teilen, ist ausgeschlossen. Die emotionale Distanzierung wird nochmals deutlich, als sein Chefredakteur ihn fragt, wohin er versetzt werden möchte. Gottfried sei es »völlig gleichgültig« (S. 92).

Ein weiteres Indiz, dass Gottfried mit seiner Ehe und Vorkommnissen abschließen möchte, erweist sich in seinem Vorschlag, nach Island versetzt zu werden. Zwar erklärt er, er würde eine Reportage schreiben wollen, doch der Aussage: »das muss ein Aschefeld sein, das alles unter sich begraben hat« (S. 92) kann neben der offensichtlichen noch eine zweite Bedeutung zugeschrieben werden. Der Vulkanausbruch in Island – so der Vorschlag – steht symbolisch für die Zerstörung seiner Ehe. Das Aschefeld verkörpert folglich deren Ruinen. Ohne den Vulkanausbruch wäre Gottfried nämlich nach Berlin geflogen zu seiner Frau Xenia und die Illusion, dass alles in Ordnung sei, wäre noch nicht zerbrochen. Er hätte mit keinem fremden Mann am Flughafen gesprochen und nicht das vermeintliche Lachen von Xenia hören müssen. Demnach will Gottfried sich das Aschefeld vor Augen führen als Beweis, dass das Geschehene keine bloße Illusion war.

Die Novelle endet mit Überlegungen des Erzählers. Seine Anmerkungen waren über den Handlungsverlauf hinweg sparsam, doch nun kommentiert er die Irrationalität von Gottfrieds Entscheidung. So sei sein Haus in der Dorotheenstraße der Ort der Geborgenheit, den Gottfried einfach hinter sich lasse. Auch die Flucht vor Konfrontation mit Xenia kommentiert er: »Und hätte er nicht allen Grund gehabt, statt nach Island mit dem nächstbesten Flugzeug nach Berlin zu fliegen« (S. 92). Damit greift der Erzähler auf, wie es für den normalerweise rationalen Gottfried üblich wäre, der nun absolut untypisch handelt. Andererseits scheint er in der letzten rhetorischen Frage des Absatzes die Unmöglichkeit zu konzedieren, »als wäre nichts geschehen« die persönlichen Sachen zusammenzusuchen.

Zuletzt folgt ein Ausblick des Erzählers, welcher einen Gewaltakt an Xenia andeutet. Dies leitet er mit folgenden Worten ein: »Was letztendlich geschah, wir wissen es nicht« (S. 92). Im nächsten Schritt führt der Erzähler aber weiter: »Wir wissen nur, [...]« (S. 92). Der Erzähler spielt an dieser Stelle mit den Grenzen der Wirklichkeit und Illusion. Wie zu Beginn der Novelle führt der Erzähler die Leser zum vertrauten Ort, dem Haus in der Dorotheenstraße. Es sei möglich, dass Gottfried eines Tages dem zwanghaften Gedanken, der Aufforderung »Put out the light«, erliegt und nach Berlin zurückkehrt; dass Gottfried letzten Endes sich mit Othello identifiziert und seine Frau Xenia dasselbe Schicksal ereilt wie Desdemona. Weil der Erzähler den Indikativ verwendet – »›Put out the light!‹ rief er [...]« (S. 93) – wird die Interpretation gestützt, dass die Katastrophe tatsächlich eintritt und Gottfried seine Frau ermordet.

Veröffentlicht am 13. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2023.