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1984

Interpretation

Historische Bezüge

»1984« kann als eine düstere und dystopische Vision einer totalitären Gesellschaft interpretiert werden, die auf einigen damaligen historischen Ereignissen und totalitären Regimen basiert. Obwohl Orwell das genaue Jahr 1984 wählt, um seiner Geschichte Aktualität zu verleihen, kann der Roman vor allem als Kommentar auf die Zeit vor und während seiner Entstehung, insbesondere auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Auswirkungen des Totalitarismus, betrachtet werden.

Der Roman spiegelt die Furcht vor einer dauerhaften und totalen Kontrolle des Staates wider, die durch die Erfahrungen mit totalitären Regimen wie dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion verstärkt wurde. Die totalitäre Natur des Regimes in »1984« ähnelt den Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen dieser realen historischen Regime. Orwell kritisiert den Missbrauch von Macht und die Manipulation von Sprache und Information durch den Staat, um die Wahrheit zu verzerren und die Menschen zu kontrollieren. Dies kann als eine Reaktion auf die Propaganda und die staatliche Zensur in totalitären Regimen während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges gesehen werden.

Einerseits steht die totalitäre Diktatur Stalins in der Kritik, die ebenfalls Schauprozesse und ähnliche Methoden der Bürgerbespitzelung und Folter einsetzte. Dort wurde Stalin ähnlich wie der Große Bruder wie eine Ikone verehrt. Andererseits kann man aufgrund der Manipulation von Sprache und der Vernichtung der Kultur auch das faschistische System im Dritten Reich als Vorlage ausmachen. Vor allem der Aufbau eines künstlichen Feindbildes ist aus dem vergangenen Krieg bekannt (vgl. Herforth 2019: 104f.).

Man kann den Roman als eine Aufarbeitung dieser Erfahrungen sehen und als eine Warnung davor, was geschehen könnte.  

Der »gläserne« Mensch

In der dystopischen Gesellschaft des Romans wird jeder Aspekt des Lebens der Menschen von der Partei überwacht und kontrolliert. Der »gläserne« Mensch symbolisiert die vollständige Transparenz und den Verlust jeglicher individuellen Freiheit. Die Idee des »gläsernen« Menschen bezieht sich auf die Fähigkeit des Staates, jeden Schritt, jedes Wort und jede Handlung der Menschen zu überwachen. Es verdeutlicht die extreme Überwachung, die Orwell in »1984« vorhersagt, bei der die Privatsphäre und persönliche Freiheit vollständig ausgelöscht sind. Die Menschen leben in ständiger Angst vor Entdeckung und Bestrafung für ihre Gedanken und Handlungen.

Überall gibt es Telemonitore und Mikrofone, die jeden Schritt, jedes Geräusch und jede Veränderung des Gesichtsausdrucks der Menschen beobachten. Orwell besprach damit »die Kehrseite immer neuer wissenschaftlicher Innovationen und der Folgen der Industrialisierung« (Ellenrieder 2021: 44).

In gewisser Hinsicht schuf er jedoch auch eine fast beängstigende Vorhersage der Effekte von Technologie heute: Heute gibt es Überwachungskameras in vielen Städten, an öffentlichen Plätzen und in Geschäften. Ebenso werden Online-Aktivitäten, Kommunikation und Transaktionen von Regierungen und Unternehmen überwacht. Es werden große Mengen an Daten gesammelt, analysiert und zur Profilerstellung genutzt, um Verhaltensmuster, Präferenzen und Vorlieben der Menschen zu erkennen. Dies geschieht beispielsweise durch personalisierte Werbung oder gezielte Überwachung zur Verbrechensprävention. Gerade die Smartphone-Überwachung oder das Abgreifen privater Daten durch Plattformen wie Amazon oder Google erinnern stark an Orwells Überwachungsapparat (vgl. Waddel 2020, S. 2).

Blickt man über unseren westlichen Tellerrand hinaus, wird es noch spannender. Das Überwachungssystem in China zum Beispiel zeigt ebenfalls deutliche Parallelen: Dort baute man in den letzten Jahren ein gigantisches Überwachungssystem auf, das das Verhalten der Bürger bewertet und soziale Belohnungen oder Strafen vergibt. Millionen von Überwachungskameras werden eingesetzt, um öffentliche Plätze, Straßen und sogar Wohngebiete zu überwachen. Diese Kameras werden mit Gesichtserkennungstechnologie gekoppelt, um Bürger zu identifizieren und ihr Verhalten zu verfolgen (NDR 2021). 

Die Doppeldenk-Struktur

»Doppeldenk bezeichnet die Fähigkeit, zwei einander widersprechende Überzeugungen gleichzeitig im Kopf zu haben und beide als gleichwertig zu akzeptieren.« (291)

Dies ist das Prinzip, das dem Bestreben der Partei, die Wirklichkeit zu kontrollieren, zugrunde liegt. Es ist ein wichtiges Thema im Roman, das sich auch auf einer strukturellen Ebene wiederfindet. Viele Ereignisse zeichnen sich durch »Zweideutigkeit« (Herforth 2019: 109) aus: So sind allein O’Briens Handlungen und auch Winstons Wahrnehmung seiner Person schwer definierbar. Er ist einerseits ein Verbündeter und Angehöriger der Widerstandsbewegung, und andererseits Winstons Peiniger und Mitglied der Gedankenpolizei. An der Figur O’Brien wird das Konzept des Doppeldenk am besten sichtbar, denn auch Winston vereint in seinem Verhältnis zu ihm widerstrebende Gefühle: Einerseits ist er ihm unterlegen und wird von ihm gefoltert, andererseits bringt er ihm Verehrung und Zuneigung entgegen.

Auch über die Widerstandsbewegung gewinnen weder Winston noch der Leser Klarheit. Sie könnte existieren, aber gleichzeitig könnte sie auch nur eine kluge Erfindung der Partei sein, um rebellische Gesinnungen der Mitglieder zu enttarnen. Wie Goldstein existiert auch der Große Bruder nur in den Köpfen der Menschen, was ihn real macht, wie O’Brien erklärt, da die Partei die Köpfe der Menschen regiert (vgl. 358f.).

Im dritten Teil des Romans driftet das Gespräch Winstons mit O’Brien in eine hochphilosophische Richtung. Es geht hier vor allem um die Definition von Wahrheit. Während Winston der Ansicht ist, Wahrheit wäre etwas Objektives, meint O’Brien, dass sie sich nur »innerhalb des [menschlichen] Schädels« (359) abspielt: »Alles existiert nur im menschlichen Bewusstsein« (ebd.).

Diese These lässt die Ereignisse der Romanhandlung in einem neuen Licht erscheinen. Eigentlich können sich weder Winston noch Julia sicher sein, dass irgendeine der Informationen, die sie im Laufe des Romans erhalten, wahr ist. Und auch als Leser kann man sich darüber nie hundertprozentig im Klaren sein, denn in »1984« ist Wahrheit ein dehnbarer Begriff. 

Orwell kritisiert mit diesem Prinzip ebenfalls eine Tendenz in der Politik zu seiner Zeit: In seinem Essay »In Front of Your Nose« prangert er die wechselnden Positionen der englischen Intellektuellen gegenüber der damaligen Sowjetunion an: Diese würden ebenfalls immer wechselnd zwei unterschiedliche Überzeugungen vertreten, die sich eigentlich komplett widersprechen (vgl. Orwell 1946). 

Veröffentlicht am 31. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2023.