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1984

Erster Teil: Kapitel 7–8

Zusammenfassung

Winston macht sich Gedanken um die »Proles«. Sie stellen mit 85 Prozent die Bevölkerungsmehrheit dar und leben ohne ständige Überwachung und weitestgehend natürlich. Weil die Partei sie eher als natürlich minderwertig und eher als Tiere betrachtet, sind ihnen Freiheiten wie z. B. die Scheidung gegeben. Auch die Zivilpolizei greift nicht in ihr Leben ein, sodass es in den Prole-Vierteln eine hohe Kriminalitätsrate gibt.

Winston ist der Ansicht, wenn sie nur wollten, könnten sie mit einer Rebellion das Regime stürzen. Doch rebellische Züge kann er an ihnen nicht beobachten. Die Partei versucht das politische Interesse der Proles mithilfe von Propaganda klein zu halten. Man erzählt ihnen eine abgewandelte Geschichte der Vergangenheit, in der die Kapitalisten die Welt unterdrückt und ausgebeutet hätten. Die Partei habe sie aus dieser Versklavung errettet.
Außerdem hält die Partei die Proles absichtlich am Existenzminimum, um sie vom Nachdenken über die aktuelle Situation abzulenken. Dadurch können die Proles kein unabhängiges Denken entwickeln.

Winston hält jedoch die meisten Dinge, die die Partei der Welt als Fakten präsentiert, für Fälschungen. In seinem Tagebuch berichtet er nun von einem tatsächlichen Beweis für die Geschichtsfälschung durch die Partei. Diesen habe er im Jahre 1973 selbst in den Händen gehalten. 1965 sind einige der letzten überlebenden Anführer der Revolution, Jones, Aaronson und Rutherford, von der Partei festgenommen worden. Nach dem üblichen Verfahren sind sie erst für ein Jahr verschwunden und haben dann sämtliche Verbrechen gestanden, die die Partei ihnen vorgeworfen hatte.
Nach den Geständnissen wurden sie begnadigt und vorübergehend wieder in die Partei aufgenommen. Winston erinnert sich, sie in dieser Zeit im Chestnut Tree Café gesehen zu haben – gebrochene Männer mit verstümmelten Gesichtern. Etwas später wurden die drei erneut festgenommen und endgültig hingerichtet.

1973 war Winston dann ein Zeitungsartikel mit einem datierten Foto der drei Männer in die Hände gefallen. Auf dem Foto befinden sie sich gut erkennbar in New York, also in Ozeanien. Winston ist jedoch sicher, dass sie gestanden hatten, zu diesem Zeitpunkt in Eurasien gewesen zu sein. Damit müssen die Geständnisse der drei Lügen gewesen sein. Aus Angst vor der Gedankenpolizei hatte Winston das Beweispapier jedoch sofort vernichtet, was er nun bereut.

Die Partei verfolgt das Ziel, den gesunden Menschenverstand und auch das Gedächtnis der Bevölkerung zu zerstören. Die Menschen sollen nur das als wahr akzeptieren, was die Partei ihnen vorgibt. Damit könnte die Partei sie sogar glauben machen, dass zwei und zwei fünf ergibt. Winston denkt an O’Brien, den er auf seiner Seite glaubt, und merkt an, dass er sein Tagebuch für ihn schreibt. Zum Schluss des Eintrags hält er fest, Freiheit sei die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei vier ergebe (112).

Im 8. Kapitel besucht Winston die Londoner Proles-Viertel, anstatt den Abend mit Parteimitgliedern im Kommunalen Zentrum zu verbringen. Die Partei sieht Alleingänge nicht gerne und plant für die Freizeit eines jeden eigentlich gemeinschaftliche Aktivitäten. Bei seinem Spaziergang erlebt Winston den Angriff einer Raketenbombe und hört Diskussionen über die Lotterie zu, die das Ministerium für Fülle für die Proles organisiert. Die Lotterie ist für die meisten Proles der Sinn ihres Lebens. Allerdings wissen sie nicht, dass die hohen Gewinnsummen meistens an Leute gehen, die überhaupt nicht existieren, und nur kleine Beträge tatsächlich ausgezahlt werden.

Vor einem Pub entdeckt Winston einen alten Mann und fasst den Entschluss, ihn über die Vergangenheit auszuhorchen. Dies gelingt allerdings nicht – denn der alte Mann scheint nicht zu verstehen, worauf Winston hinauswill, und erinnert sich nur an unwichtige Einzelheiten.

Winston verlässt den Pub und findet sich vor dem Trödelladen wieder, in dem er sein Tagebuch gekauft hat. Winston unterhält sich mit dem Besitzer Mr. Charrington, einem älteren Mann, und kauft einen gläsernen Briefbeschwerer, in den eine Koralle eingeschlossen ist. Mr. Charrington zeigt ihm noch mehr Antiquitäten und einen altmodischen, aber gemütlichen Raum im ersten Stock. Laut dem Besitzer enthält er keinen Telemonitor. Dafür entdeckt Winston unter anderem ein Gemälde einer alten Kirche. Charrington erzählt ihm, dass sie St. Clement Danes hieß und spricht ein Stück eines Kinderreims dazu. Jedoch erinnert er sich nur noch an Bruchstücke daraus. Winston verlässt fasziniert den Laden.

Auf der Straße geht die Frau mit den dunklen Haaren aus der Abteilung für Fiktion an ihm vorbei, doch sie sagt nichts. Angst packt Winston, denn er ist nun sicher, dass sie eine Spionin der Gedankenpolizei ist. Doch obwohl er kurz daran denkt, sie zu töten, geht er weiter. Zuhause grübelt er über seine Zukunft und über seinen jetzt schon feststehenden Tod nach.

Analyse

Im Kapitel 7 wird deutlicher auf die Gesellschaftshierarchie von Ozeanien eingegangen. Die Proles bilden den größten Teil der Gesellschaft und damit den unteren Abschnitt der Pyramide. »Proles« ist ein Neusprechwort für Proletarier und bezeichnet die Arbeiterklasse. Über den Proles stehen die Mitglieder der Äußeren Partei mit 13%: zu diesen gehören auch Winston, Julia oder Syme. Die Innere Partei besteht dann nur noch aus 2% der Bevölkerung und an der Spitze der Pyramide findet sich der Große Bruder. Diese Hierarchie wird streng eingehalten, denn es gibt kaum Austausch unter den verschiedenen Schichten.

Winston beginnt das 7. Kapitel mit dem Satz: »Wenn es noch Hoffnung gibt, […] so liegt sie bei den Proles« (96), den er in sein Tagebuch schreibt. Dieser Satz zieht sich als Thema durch den Roman. Den Proles kommt eine starke symbolische Bedeutung zu. Sie stehen für Moral und Fruchtbarkeit, denn sie lassen menschliche Gefühle zu und können ihre Sexualität und ihr Familienleben frei ausleben (vgl. Taylor 2020: 161–165). Gerade weil sie überhaupt kein Interesse an Politik haben und nur für sich selbst leben, sind sie die letzte Verbindung zu einem menschlichen Leben und damit zur Vergangenheit (ebd.: 165).

Auch der Briefbeschwerer, den Winston bei Mr. Charrington kauft, symbolisiert die Vergangenheit (vgl. Plank 1983: 47–50). Winston ist von Anfang an fasziniert von diesem eigentlich nutzlosen Objekt und seiner »eigenartige[n] Weichheit« (131). Dinge wie Briefbeschwerer oder allein Briefe gibt es zu Winstons Zeiten nicht mehr. Er kauft ihn nicht, weil ihn seine Schönheit anspricht, sondern weil ihm der Eindruck anhaftet, zu einer anderen Zeit zu gehören (131).

Genau dieselbe Funktion erfüllt der Kinderreim, dessen erste Zeilen Winston von Mr. Charrington in Kapitel 8 erfährt. Am Ende jedes Anfangsverses wird eine alte Kirche Londons erwähnt. Wie die Kirche St. Clements Danes, die auf dem Stahlstich in Charringtons Zimmer zu sehen ist, sind allerdings viele dieser Kirchen zu Winstons Zeit zerstört. Der Reim dient als Verbindung zu den Kirchen und damit zum vergangenen London. Im Laufe der Handlung entwickelt Winston einen regelrechten Zwang, ihn zu vervollständigen: So wie er den Reim rekonstruieren will, will er auch das Rätsel um die Vergangenheit lösen (vgl. Plank 1983: 26–38).

Das Chestnut Tree Café findet erneut Erwähnung. Das Café ist einer der wenigen spezifischen Orte des Romans und wird auch am Ende des Romans noch einmal eine Rolle spielen. Schon in Kapitel 5 wird dem Ort eine »unheilvolle Aura« (77) zugeschrieben. In Kapitel 7 wird nun beschrieben, wie sich dort gelegentlich die Überlebenden treffen, die zu Verrätern des Regimes geworden sind. Sie sind »wandelnde Tote, die darauf warteten, zurück ins Grab geschickt zu werden« (105). Jones, Aaronson und Rutherford stehen Tränen in den Augen, wobei weder dem Leser noch Winston der Grund dafür bekannt ist.

Hier kommt Foreshadowing zum Einsatz (die Vorausdeutung des weiteren Handlungsverlaufs), wenn Winston das Lied aus dem Telemonitor hört: »Under the spreading chestnut tree/I sold you and you sold me/There lie they, and here lie we/Under the spreading chestnut tree« (107) (»Unter dem verzweigten Kastanienbaum/Verkaufte ich dich und du verkauftest mich/Da liegen sie, und hier liegen wir/Unter dem verzweigten Kastanienbaum«). Orwell dichtete diese Zeilen als Anspielung auf das Gedicht »The Village Blacksmith« (»Der Dorfschmied«) des amerikanischen Dichters H. W. Longfellow, das mit derselben ersten Zeile beginnt. Auch andere Schriftsteller, wie z. B. Schiller, parodierten das Gedicht in ihren Werken oder ließen sich davon inspirieren (vgl. Plank 1983: 41f.). Später wird deutlich werden, worin der Verrat besteht, von dem die Zeilen handeln, wenn Winston in das Café zurückkehrt (vgl. Analyse zum Dritten Teil: Kapitel 4–6).

Veröffentlicht am 31. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2023.