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1984

Erster Teil: Kapitel 4–6

Zusammenfassung

Im Ministerium der Wahrheit, auf Neusprech MiniWahr genannt, geht Winston seiner Arbeit nach: Er ist Mitglied der Dokumentationsabteilung, wo er Zeitungsartikel und andere Dokumentationen im Sinne der aktuellen politischen Ziele der Partei umschreibt. In Kapitel 4 wird deutlich, wie die Partei in Ozeanien Realität konstruiert: Veröffentlichte Informationen werden im Wahrheitsministerium gespeichert und fortwährend überprüft – kommt es zu aktuellen Entwicklungen im Weltgeschehen, passt das Ministerium diese entsprechend an.

In diesem Kapitel soll Winston einen Artikel der Times »richtigstellen«, der von einem Tagesbefehl des Großen Bruders aus dem vergangenen Winter handelt. In der Rede wird ein Mitglied der Inneren Partei namens Withers erwähnt, der für seine Verdienste im Krieg einen Orden erhalten hat. Winstons Anordnung zufolge nimmt der Artikel Bezug auf »Unpersonen«, was korrigiert werden soll – daher nimmt Winston an, Withers wäre bereits tot. Gegner des Systems oder Menschen, die sich nicht zufriedenstellend an die Regeln halten, werden »vaporisiert«, also hingerichtet, wobei es im Anschluss daran so ist, als hätte es sie nie gegeben. Daher beseitigt das Wahrheitsministerium sämtliche Spuren, die diese Menschen in der Welt hinterlassen haben. Diese Methoden haben zur Folge, dass kein Bewohner Ozeaniens weiß, was an der Welt von 1984 wahr ist – nicht einmal das Datum ist sicher.

Beim Mittagessen in der Kantine trifft Winston auf seinen Kollegen Syme, einen Linguisten, der an der Erstellung des Wörterbuchs für Neusprech, der Staatssprache Ozeaniens, mitarbeitet. Er erklärt Winston den Charakter von Neusprech: Die Sprache reduziert Englisch auf einen Minimalwortschatz. Damit soll sie einerseits effizienter und zeitsparender werden. Andererseits sollen Gedankenverbrechen damit unmöglich werden, da es für komplexere Gedanken außerhalb der Parteiideologie keine Wörter mehr geben soll. Winston fällt auf, dass Syme ein intelligenter Mann ist – zwar glaubt Syme an die Werte der Partei, dennoch denkt Winston bei sich, dass er zu klug ist und daher vaporisiert werden wird.

Winstons Nachbar Parsons gesellt sich zu den beiden. Er erzählt Winston davon, wie seine Kinder erst kürzlich einen Fremden im Wald verfolgt und anschließend bei den Patrouillen angeschwärzt haben, da sie das Gefühl hatten, er könne ein feindlicher Agent sein.

Eine Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle unterbricht das Gespräch und verkündet den Sieg im Produktionskampf. Es setzt anschließend die Bevölkerung über die aktuelle Produktion von Konsumgütern ins Bild.
Obwohl am Tag vorher bekannt gegeben wurde, die Schokoladenration sei auf 20 Gramm herabgesetzt worden, wird heute behauptet, man habe sie auf 20 Gramm erhöht. Statt empört zu sein, nimmt die Bevölkerung sogar an öffentlichen Demonstrationen teil, um dem Großen Bruder für die Erhöhung zu danken.

Winston fragt sich, ob er der einzige mit einem Gedächtnis ist. Die anderen zeigen kaum Reaktion. Er fühlt sich allein mit seinen rebellischen Gedanken und seiner Unzufriedenheit mit dem System. Auf einmal bemerkt er, dass eine junge Frau mit dunklem Haar ihn vom Nebentisch aus beobachtet. Er ist sich nicht sicher, was das bedeuten kann – er befürchtet, sich durch eine unglückliche Gesichtsregung vielleicht an sie verraten zu haben.

Im 6. Kapitel berichtet Winston in seinem Tagebuch von einem Besuch bei einer alten, unattraktiven Prostituierten in einem proletarischen Viertel. Dabei muss er an seine Frau Katharine denken, von der er seit fast elf Jahren getrennt lebt, weil Scheidungen nicht erlaubt sind. Katharine entspricht den Parteiidealen, denn sie zeichnet sich durch sexuelle Kälte und Unlust aus – Sex sieht sie nur als Fortpflanzungsmöglichkeit. Die Partei unterdrückt den Sexualtrieb vor allem zwischen Ehepartnern gezielt.

Winston bereut die Ehe mit Katharine vor allem, weil die sexuellen Begegnungen mit ihr kalt und unpersönlich waren. Als die beiden es nicht geschafft hatten, ein Kind zu zeugen, hatten sie sich schließlich getrennt.

Analyse

Neben der vollständigen Überwachung der Bürger benutzt die Partei auch noch andere Herrschaftsinstrumente, um ihre Macht absolut zu machen. Im Ministerium für Wahrheit wird vor allem deutlich gemacht, wie die Bürger Ozeaniens mit Informationen versorgt werden. Es geht hier nicht um eine objektive Berichterstattung. Vielmehr wird die Realität an die Ziele der Partei angepasst.

Dadurch nimmt die Partei eine gottähnliche Rolle ein. Sie bestimmt, was wahr ist und was nicht. Nicht einmal beim Datum kann sich Winston sicher sein, wie er in Kapitel 1 bemerkt, er weiß »nicht mit Sicherheit, ob dies wirklich das Jahr 1984 war« (13). Im Kapitel 4 sieht man, dass sich diese Kontrolle sogar auf die Menschen selbst erstreckt, indem die Partei Gegner einfach auslöscht, »vaporisiert«.

Diese Form von Anpassung der Realität sieht man häufig in Zusammenhang mit Kriegspropaganda oder der Presse im Allgemeinen. Als reale Vorlage für das Ministerium für Wahrheit kann vermutlich das britische Ministerium für Information gedient haben, das in den 1940ern für Propaganda und Öffentlichkeit zuständig war. Es war auch der Sitz der BBC (British Broadcasting Company), für die Orwell zu dieser Zeit selbst gearbeitet hat. Während des Krieges kam es oft zu beabsichtigten Falschinformationen, die für kriegsförderliche Propaganda herausgegeben wurden. Orwell scheint sich von diesen Ereignissen, sowie auch von der Architektur des Gebäudes, in dem das Ministerium für Information untergebracht war, inspiriert haben zu lassen (vgl. BBC Four 2003: 7:00–10:00).

In diesem Sinne wird auch »Neusprech« eingesetzt. Im Thema Wahrheit und Realität spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Syme führt den Leser in die Amtssprache von Ozeanien ein, die bald das »Altsprech« verdrängen soll. Dadurch wird Kommunikation nur noch in den Rahmenlinien der Engsoz-Ideologie möglich (vgl. zu Neusprech auch die Analyse zum Anhang).

Durch Neusprech und Doppeldenk wird das Gedächtnis der Menschen systematisch abgeschafft. Die gekannte Geschichte hört einfach auf zu existieren. Die Partei erschafft eine Form von Zeitlosigkeit und einer scheinbar ewig währenden Gegenwart: Sie übernimmt die Kontrolle über die Zeit (vgl. De Cristofaro 2020: 55). Genau das ist es, was die Parteiparole »Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft – wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit« (49) aussagen will.

Mit Syme, Parsons und Katharine erschafft Orwell Figuren, die jeweils das System der Partei und seine Auswirkungen veranschaulichen (vgl. Herforth 2019: 75): Syme als fanatischer, aber zu freimütiger Experte, Parsons als der parteitreue Dummkopf und Katharine als kaltherzige Ehefrau, deren Gefühle komplett abtrainiert wurden. Die Menschen unter dem Regime wirken weniger wie Menschen und mehr wie gefühllose Puppen, die von der Partei in ihre gewünschte Richtung gelenkt werden (vgl. 76).

Das sieht man besonders am Prinzip des »Quaksprech«, ein Neusprech-Wort für eine Person, die spricht, ohne zu denken. Vor allem parteikonforme Ansichten sollen so geäußert werden. Winston beobachtet einen Genossen in der Kantine, der sich auf diese Weise verständigt. Dabei hat er das »Gefühl, dass dies kein echter Mensch, sondern eine Art Puppe war. Nicht das Gehirn des Mannes gab das Sprechen vor, es war der Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm hervorquoll, bestand zwar aus Wörtern, aber es handelte sich nicht um Gesprochenes im herkömmlichen Sinn: Es war ein in Unbewusstheit geäußertes Lärmen, wie das Quaken einer Ente.« (76).

Veröffentlicht am 31. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2023.